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Fuerchte nicht das tiefe blaue Meer

Fuerchte nicht das tiefe blaue Meer

Titel: Fuerchte nicht das tiefe blaue Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: April Genevieve Tucholke
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die vergessenen Weinflaschen, die ausgetretenen Läufer und die zerschlissenen Vorhänge mir Löcher in die Seele brannten, bis ich genauso paranoid und aufgewühlt war wie Daniel Leap, wenn er in der Stadt vor sich hin zeterte. Am liebsten hätte ich Freddies alte Briefe gefunden, aber ich wäre mit allem zufrieden gewesen. Einem Tagebuch. Einem nicht fertiggestellten Skript für ein Party-Mörderspiel. Sogar mit kaum zu entziffernden Fragmenten eines schlechten Gedichts auf einer vergilbten Serviette. Irgendetwas von Freddie. Irgendetwas, das sie zu mir zurückbrachte, und sei es nur für eine Sekunde.
    Es musste doch – außer den Kleidern, die in ihrem Schrank hingen – irgendetwas anderes von ihr zurückgeblieben sein. Niemand lebt ein ganzes Leben und hinterlässt dann nichts als ein paar Kleidungsstücke. Hatte sie in den letzten Wochen vor ihrem Tod alles Persönliche verbrannt? Ich weigerte mich, das zu glauben.
    Es musste etwas geben.
    Und so war es auch. Allerdings waren es nicht die Antworten, die ich mir erhofft hatte, sondern etwas, das nur neue Fragen aufwarf.
    Der Dachboden von Citizen Kane entsprach in seinen riesenhaften Ausmaßen denen des Hauses. Als Kind hatte ich ganze Nachmittage dort oben verbracht und stundenlang in den seltsamen alten Truhen, Kisten und Schrankkoffern gestöbert, die von wer weiß wann stammten. Einmal hatte ich in einem schwarzen Koffer eine leere Flasche Gin und eine kleine rote Karte zum Aufklappen entdeckt, in der stand: Freddie – du warst die Erste, die es erfuhr, und die Letzte, die sich jemals ein Urteil erlaubt hätte. Ich habe dir mein Wort gegeben, dich niemals zu verbrennen. Was damals galt, gilt auch heute. Komme, was wolle. In ewiger Liebe. Ich.
    Die elegante Handschrift verriet, dass die Zeilen von einem kultivierten Mann geschrieben worden waren. Die Karte selbst lag auf drei ordentlich gefalteten weißen Sommerkleidern, einem schwarzen Holzkreuz und zwei mit einem Bändchen zusammengefassten Locken – die eine hellblond, die andere braun. Aber Briefe von Freddie fand ich nicht. Keinen einzigen. Ich erinnerte mich gut an diesen Koffer, weil ich ihn ein paar Tage nach Freddies Tod an einem heißen Sommernachmittag geöffnet und zu meiner Überraschung festgestellt hatte, dass die Luft darin sich kalt angefühlt hatte. Damals hatte ich die Flasche und die rote Karte zurückgelegt und den Koffer in die hinterste Ecke geschoben.
    Ich lief gerade auf dem Weg zum Dachboden die schmalen abgetretenen Stufen des Dienstbotenaufgangs zum dritten Stock hinauf, als ich über mir Lukes Schritte im Flur hörte. Wahrscheinlich war er von meinem unruhigen Herumgeistern aufgewacht. Luke tauchte auf dem oberen Treppenabsatz auf und schaute zu mir herunter. Seine kastanienbraunen Haare standen nach allen Richtungen ab und er sah so müde aus, dass er jünger wirkte und viel mehr dem Bruder ähnelte, den ich vor fünf Jahren gekannt hatte – vor Freddies Tod.
    »Violet«, sagte er blinzelnd. »Wieso um alles in der Welt läufst du um drei Uhr morgens durchs Haus und knallst mit den Türen?«
    »Ich suche etwas.« Ich setzte mich auf die oberste Treppenstufe und seufzte.
    »Du suchst etwas. Aha.« Luke quetschte sich neben mich auf den schmalen Treppenabsatz. Seine nackten Füße leuchteten neben meinen gespenstisch weiß in dem Mondlicht, das durch das halb von der Wendeltreppe verdeckte Fenster fiel.
    »Du hast doch bestimmt wieder nach Freddies Briefen gesucht, stimmt’s?«, sagte er und fügte, nachdem ich darauf nichts erwiderte, hinzu: »Anscheinend nimmt es dich ganz schön mit, dass River einfach so weggefahren ist.«
    Ich schlang die Arme um die Knie und ließ meine Haare vors Gesicht fallen. »Nein«, log ich. »Ich frage mich nur die ganze Zeit, wo das kleine Mädchen ist.« Dann drehte ich den Kopf und sah Luke an. »Aber jetzt, wo du es erwähnst … ja, es macht mich tatsächlich irgendwie wütend, dass River einfach so abgehauen ist.«
    Luke lachte.
    Ich hielt seinen Blick fest. »River hat gesagt, wenn jemand zu weit geht, könnte ich gnadenlos sein. Glaubst du das auch?«
    Luke schwieg eine Weile, dann zuckte er mit den Achseln. »Normalerweise würde ich einem Typen, der das Bett mit dir geteilt hat und anschließend einfach so verschwindet, die Seele aus dem Leib prügeln. Aber ich mag River. Er hat irgendetwas an sich …«
    Ich nickte. »Das hat er.«
    Stille.
    »Ich bin noch mal auf den Friedhof gegangen«, erzählte ich ihm schließlich. »Die Kinder

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