Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Fuerchte nicht das tiefe blaue Meer

Fuerchte nicht das tiefe blaue Meer

Titel: Fuerchte nicht das tiefe blaue Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: April Genevieve Tucholke
Vom Netzwerk:
waren wieder dort und sind mir mit ihren Pflöcken nachgeschlichen. Ihre gehetzten kleinen Gesichter haben mir solche Angst gemacht, dass ich es nicht ausgehalten habe und vor ihnen geflohen bin.«
    Luke lachte wieder, aber diesmal war es eine Art liebevolles Schmunzeln, das ich nicht oft von ihm hörte. »Es war eine lange Nacht für dich, Schwester.«
    Ich musste ein bisschen lächeln, weil es stimmte. »Bist du mitten in der Nacht immer so nett? Vielleicht sollte ich dich öfter wecken.«
    »Bitte nicht. Es gibt Leute, die müssen früh raus.« Luke stand lächelnd auf, gähnte und tapste in sein Zimmer zurück. »River wird zurückkommen«, sagte er noch über die Schulter. »Verlass dich drauf.«
    Mein Bruder hatte recht.
    In der vollkommenen Stille kurz vor Morgengrauen fuhr River in die Einfahrt. Ich sah seinen Wagen kommen, weil ich so blöd gewesen war, wach zu bleiben und auf ihn zu warten.
    Er stieg aus, kam lässig die Stufen zu mir hoch und lächelte sein verdammtes schiefes Lächeln. Der Ausdruck in seinen braunen Augen war nicht so spöttisch wie beim letzten Mal, als er mich auf der Treppe angetroffen hatte. Und seine Haare waren nicht altmodisch gescheitelt, sondern standen nach allen Seiten ab, als hätte er sie sich in den vergangenen Stunden mehrmals verzweifelt gerauft. Er war immer noch der coole, anmutige River, aber irgendetwas an ihm war anders als vorher.
    »Hey, Violet.« Nur seine Stimme klang noch genauso gleichmütig wie sonst.
    »Hey«, erwiderte ich genauso gleichmütig, obwohl ich am liebsten aufgestanden wäre, den Kopf in den Nacken gelegt und geschrien hätte – wegen der Kinder, dem Friedhof, dem Teufel, dem verschwundenen Mädchen und weil River ohne ein Wort weggefahren war, obwohl er der erste Junge gewesen war, den ich geküsst hatte, und weil das alles verdammt noch mal ausreichte, um einen den Verstand verlieren zu lassen.
    Aber ich wehrte mich dagegen, mich River gegenüber so … emotional zu zeigen. Ich hatte das Gefühl, es würde ihm gefallen, mich wütend zu sehen, und diese Genugtuung wollte ich ihm nicht geben. Außerdem war ihm das verräterisch glückliche Leuchten in meinen Augen bestimmt sowieso schon aufgefallen.
    »Sind die Kinder auf den Friedhof zurückgekehrt?« River verschwendete keine Zeit mit Small Talk. Aber das war mir recht.
    »Ja, als es dunkel wurde.« Ich sagte ihm nicht, woher ich das wusste.
    River streckte mir seine Hand hin. »Es ist Zeit, dem Spuk ein Ende zu bereiten. Hilfst du mir?«
    Ich nickte und ließ mich von ihm auf die Füße ziehen.
    Als wir am Tor zum Friedhof angekommen waren, hatte ich River immer noch nicht gefragt, wo er gewesen war und warum er sich aus dem Staub gemacht hatte. Er schien auch nicht bereit, von allein mit der Sprache herauszurücken. Aber wahrscheinlich hätte er mir sowieso nicht die Wahrheit erzählt, und außerdem lag meine Hand jetzt in seiner, und er hatte seine langen Finger mit meinen verschränkt, und mein Inneres war nicht mehr schwarz-weiß, sondern leuchtete in Technicolor.
    Die Morgendämmerung streifte ihr graues Gewand ab und zeigte sich am Horizont im ersten zarten Rosa und Purpur des Tages. Ich sah wieder das Mädchen, das mit den krisseligen schwarzen Haaren aus der Nacht zuvor. Sie kauerte hinter dem Grabstein eines kleinen Jungen, der vor so langer Zeit »Im Meer ertrunken« war, dass die Buchstaben seines Namens kaum noch zu entziffern waren.
    River ging neben dem Mädchen in die Hocke, legte seine Hand um ihre geballte Faust und entwand ihr sanft den Pflock. »Geh nach Hause«, sagte er. »Wir finden Isobel. Deine Eltern werden bald aufwachen und sich Sorgen machen. Geh nach Hause. Es gibt keinen Teufel.«
    Das Mädchen richtete sich auf, warf River einen langen Blick zu und rannte zum Ausgang.
    River brach den angespitzten Ast in der Mitte durch und warf ihn in ein Gebüsch. Dann machten wir uns auf den Weg zur Gruft. Vom Meer her wehte wieder Nebel übers Festland, und an manchen Stellen war er so dicht, dass es einem so vorkam, als würde man durch Fetzen eines riesigen nassen grauen Wollpullovers gehen. Früher hatte mir der Nebel nie etwas ausgemacht, aber aus irgendeinem Grund hatte ich plötzlich das Gefühl, darin zu ersticken. Ich konzentrierte mich und atmete tief die Seeluft ein, bis die Panik nachließ.
    Neben der Gruft auf dem Hügel standen ungefähr zwanzig Jungen, die uns mit erschöpften und gehetzten Mienen entgegensahen, als wir uns ihnen näherten. Ihr Anblick erinnerte

Weitere Kostenlose Bücher