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Fuerchte nicht das tiefe blaue Meer

Fuerchte nicht das tiefe blaue Meer

Titel: Fuerchte nicht das tiefe blaue Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: April Genevieve Tucholke
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eine Abneigung gegen die Malerei zu entwickeln. Als sie letzten Herbst nach Paris gereist waren, hatte ich beschlossen, einen kalten Entzug zu machen. Luke hatte schon seit Jahren nicht mehr gemalt, ich glaube, seit Freddies Tod nicht mehr. Dabei war er viel begabter als ich. Er malte richtig, richtig gut, genau wie unser Vater.
    Mir fielen die feuchten Pinsel im Gästehaus ein.
    »Ach, übrigens, Luke? Malst du wieder?« Ich sah ihn an. Er saß in seinem flotten Anzug neben Sunshine auf einem Haufen verstaubter alter Samtsitzkissen, knabberte an ihrem Ohrläppchen und beachtete mich nicht.
    Ich versetzte ihm einen leichten Tritt gegen den Fuß. »Du kannst es mir ruhig sagen, wenn es so ist. Ich würde mich darüber freuen.«
    Aber er küsste Sunshine und antwortete nicht. Vielleicht war es ihm zu wichtig, als dass er darüber sprechen wollte. Ich gab ihm noch einen Tritt, ließ ihn dann aber in Ruhe.
    Jack setzte sich zwischen River und mich. Obwohl er sich mit seiner stillen, beherrschten Art überhaupt nicht wie ein Kind verhielt, weckte er Muttergefühle in mir und brachte mich zum Nachdenken. Ich kam zu dem Schluss, dass ich bestimmt nicht jeden Nachmittag mit meinen Künstlerfreunden verbringen und über Renoir oder Rodin diskutieren würde, wenn ich ein Kind hätte. Und ich würde auch nicht einfach auf unbestimmte Zeit nach Europa abhauen. Nein … ich würde bei meinem Kind bleiben, ihm mit Ahornsirup gesüßten Eistee machen und ihm Geschichten erzählen. Nicht die ganze Zeit, aber oft genug, um es spüren zu lassen, dass ich froh war, es zu haben.
    Jack fing an zu gähnen, was nicht verwunderlich war, wenn man bedenkt, dass er die letzten beiden Nächte auf einem Friedhof verbracht und nach dem Teufel gesucht hatte. Mir fiel wieder ein, was er vorhin zu River gesagt hatte, als er auf der Treppe auf uns gewartet hatte. Dass er hatte wissen wollen, wie River es gemacht hatte.
    In diesem Moment sah River mich an, als hätte er meinen Blick gespürt. Seine Finger ruhten immer noch auf der Ukulele, und er sah so offen und zufrieden aus, dass ich beschloss, es wie Scarlett O’Hara aus »Vom Winde verweht« zu machen und meine Probleme erst einmal zu vertagen. Ich konnte mich auch morgen noch mit Friedhöfen und dem Teufel auseinandersetzen.
    Freddie hatte einmal zu mir gesagt, ich sei schlimmer als jeder Sturkopf, weil ich nämlich überhaupt nicht stur sei, sondern geduldig. Geduldig und willensstark. Einen Sturkopf könne man ablenken oder austricksen. Mich nicht. Ich würde einfach abwarten und nicht eher aufgeben, bis ich meinen Willen durchgesetzt hätte – in der Regel dann, wenn alle anderen längst vergessen hatten, worum es ging. Ich weiß nicht, ob Freddie damit recht hatte. Vielleicht war sie auch einfach nur wegen irgendetwas sauer auf mich gewesen.
    Jack musste wieder gähnen. Er hatte hohe Wangenknochen, die noch deutlicher hervortraten, wenn er den Mund öffnete, und ich konnte mir gut vorstellen, dass er einmal zu einem elegant aussehenden Mann heranwachsen würde – zuvorkommend und charmant wie ein Filmstar aus den 1940er-Jahren.
    Als Nächstes fielen ihm die Augen zu und er schlief ein.
    Mein Blick wanderte zu einem der runden Fenster und folgte einem Sonnenstrahl bis in eine Ecke, in der ein alter Koffer stand, dessen schwarzes Leder in dem sanften Licht heller, beinahe braun wirkte. Plötzlich fiel mir auf, dass es der Koffer mit der leeren Ginflasche und der roten Karte war, den ich eigentlich noch einmal gründlich hatte durchsuchen wollen, was ich dann aber nach der nächtlichen Begegnung mit Luke vergessen hatte.
    Ich wäre fast aufgestanden und hätte mein Vorhaben sofort in die Tat umgesetzt, wenn Jack, der sich an mich lehnte, nicht so zart und süß ausgesehen hätte. Dieser friedvolle Moment war einfach zu kostbar, um ihn aus Sehnsucht nach Freddie zu zerstören.
    Ich würde später noch einen Blick in den Koffer werfen, nahm ich mir vor. Und diesmal würde ich es nicht wieder vergessen.
    »Es gibt da so eine Kurzgeschichte von William Faulkner – Eine Rose für Emily … «, sagte ich zu niemand Bestimmtem, nachdem das Lied, das River auf der Ukulele gespielt hatte, verklungen und es bis auf die regelmäßigen Atemzüge von Jack still geworden war. Ich hatte das plötzliche Bedürfnis zu reden, was eigentlich völlig untypisch für mich war. Aber mir gingen zu viele Dinge durch den Kopf, über die ich nicht nachdenken wollte, deswegen musste ich mich ablenken und plapperte

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