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Fuerchte nicht das tiefe blaue Meer

Fuerchte nicht das tiefe blaue Meer

Titel: Fuerchte nicht das tiefe blaue Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: April Genevieve Tucholke
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Es war ein nettes, aufrichtiges Lächeln, das River erwiderte. Ich musste an das denken, was Luke auf dem Dachboden gesagt hatte. Dass niemand in der Stadt mit uns redete. Und zum ersten Mal fragte ich mich, ob das vielleicht eher an uns lag als an den anderen.
    Waren wir aufgeblasene Wichtigtuer? Wir lebten in einem riesigen Haus und stammten aus einer schillernden Familie, aber unser Geld war weg, und wir schafften es nur mit Müh und Not, Citizen Kane zu halten. Trotzdem waren wir distanziert. Meine Eltern hatten Künstlerfreunde aus aller Herren Länder, die sie besuchten, aber sie mieden den Kontakt zu den Menschen in der Stadt, in der sie lebten. Mein Vater hatte einmal gesagt, das Einzige, was ihn langweilen würde, wären langweilige Menschen, und von denen würde es in Echo jede Menge geben.
    Als ich jetzt daran zurückdachte, fragte ich mich, ob es ihm nicht vielleicht einfach nur peinlich war, dass wir meistens nicht in der Lage waren, die Stromrechnung zu bezahlen.
    Ich holte tief Luft und lächelte die Frau an. Sie lächelte zurück.
    Und das fühlte sich gut an.
    River zeigte mir, wo Jack wohnte. Das Haus lag in einer Sackgasse in der Nähe eines großen Backsteingebäudes, das ich hasste, weil es meine Schule war. Mir schauderte, als wir daran vorbeikamen. Am liebsten wäre ich zu Hause von Privatlehrern unterrichtet worden, wie mein Vater als Kind, aber das konnten wir uns nicht leisten. Ich hatte keine Ahnung, wie ich es schaffen sollte, nach den Ferien dorthin zurückzukehren, falls meine Eltern bis dahin nicht wieder zu Hause waren. Luke hatte während des Schuljahrs wenigstens seinen Sport und seine Mannschaftskollegen. Ich hatte niemanden außer Sunshine, und die war … na ja, eben Sunshine.
    Vielleicht hätte ich Arbeitsgemeinschaften beitreten, bei der Theatergruppe oder beim Bienenzüchterclub mitmachen sollen. Vielleicht hätte ich nicht jede freie Minute mit Büchern verbringen oder mich an den Rockzipfel einer alten Frau hängen sollen, die ständig vom Teufel geredet hatte.
    Plötzlich fühlte ich mich alt. Steinalt. Freddie-alt. Ich legte die Hände an meine Wangen, aber die waren immer noch glatt, weich und jung.
    Als River mich ansah, ließ ich die Hände sinken. Wir waren vor Jacks Haus angekommen.
    Es war klein und verströmte mit seiner abblätternden Farbe die Traurigkeit eines draußen im Regen vergessenen Spielzeugs. Wir klopften an die Tür, und ich lächelte bei der Vorstellung, gleich Jacks ernstes Gesicht vor mir zu sehen.
    Stattdessen öffnete uns ein Mann die Tür. Er war groß und extrem hager, hatte schüttere graue Haare, und seine Augen lagen in tiefen Höhlen wie die eines halb verhungerten Landstreichers auf Fotos aus den 1930er-Jahren. Gleichzeitig lag in seinen klaren, ebenmäßigen Zügen eine gewisse Kultiviertheit, der auch das Hohläugige und Knochige nichts anhaben konnte. Er musste einmal ein attraktiver Mann gewesen sein – auch wenn das schon sehr, sehr lange her war. Das gelbe Hemd, das er trug, hatte Flecken, und hinter ihm im Flur lag das zu seiner braunen Tweedhose passende Jackett zusammengeknüllt auf dem Boden.
    Der Mann war Daniel Leap, der Säufer, der seine Meinung über meine Familie schon von jeder Ecke in Echo lautstark kundgetan hatte. Der Mann, der mir die Aussicht ruiniert hatte, als ich mit River vor dem Café gestanden hatte.
    Und plötzlich begriff ich, warum Jack allein war. Und warum er so ernst war.
    Zwischen seinen langgliedrigen Fingern hielt Daniel Leap ein Glas, in dem eine bernsteinfarbene Flüssigkeit schwappte. Bourbon, wie ich vermutete. In der anderen Hand hielt er eine Nähnadel, von der ein langer schwarzer Faden hing. Seine Augen waren genauso groß wie die von Jack, aber es lag nicht Jacks durchdringende Melancholie darin, sondern ein benebelter und verlorener Ausdruck.
    »Ist Jack zu Hause?«, fragte River, dessen Gesicht die gleichen Gefühle widerspiegelte, die ich empfand. Überraschung. Verwirrung. Sorge.
    »Was wollt ihr von ihm?« Leap flüsterte fast, aber es lag auch eine gewisse Schärfe in seiner Stimme.
    Bevor River antworten konnte, tauchte Jack im Flur auf.
    »Hey, River«, sagte er. »Hey, Violet. Das ist mein Pa.«
    Der Blick von Jacks Vater wanderte von seinem Sohn zu River und dann zu mir. Er drehte sich ein Stück zur Seite und versetzte Jack einen Schubs. »Halt den Mund, Jack.«
    Es entstand eine lange Pause, in der Daniel Leap einen Schluck aus seinem Glas nahm, während River und ich ihn schweigend

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