Fuerchte nicht das tiefe blaue Meer
dass ich mir sicher war, ich würde darin ertrinken.«
Luke holte erschöpft Luft. Seine Brust hob und senkte sich, als wäre er gerannt. Ich nahm seine Hand und drückte sie, während mir alle möglichen Gedanken durch den Kopf schossen, ohne dass ich sie zu fassen bekam.
»Ich habe gehustet und gewürgt«, fuhr Luke fort. »Ich ertrank in Mondlicht, das nach Butter, Stahl, Salz und feinem Nebel schmeckte. Und genau in dem Moment, in dem ich dachte, sie würde mich umbringen, mir alle Luft aus den Lungen saugen und mich zu einem Geist machen, wie sie einer ist, nahm sie die Hand von meinem Mund und … verschwand.«
Er sah mich mit schräg gelegtem Kopf an und in seinen haselnussbraunen Augen lag der vertrauensselige Ausdruck eines unschuldigen kleinen Jungen. »Aber das war nur ein Traum, oder? Der schrecklichste Traum, den ich je hatte, aber trotzdem nur ein Traum, stimmt’s, Vi?«
Ich dachte an River und das, was er mir erzählt hatte. Dass er, was Luke betraf, noch auf eine gute Gelegenheit wartete, dabei hatte er da schon entschieden gehabt, was er mit ihm anstellen würde. Hatte es vielleicht genau in dem Augenblick in die Tat umgesetzt, in dem er mit mir darüber sprach.
Der Lügner.
Der verdammte Lügner.
Beim Anblick meines vollkommen verängstigten Bruders hatte ich einen Moment lang selbst das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. River. River.
Atme, Violet. Atme.
Luke hob die Decke an und legte sie sich über seine Schultern, sodass wir beide darin eingehüllt waren. »Seit River hier aufgetaucht ist, passieren ziemlich seltsame Dinge. Findest du das nicht komisch, Vi?«
»Doch.« Ich hätte ihm gern von dem Funkeln erzählt. Aber wenn er erfahren hätte, dass River tatsächlich dafür verantwortlich war, dass die Kinder auf dem Friedhof nach dem Teufel gesucht, dass Sunshine Blue gesehen hatte und ihm Trues Geist erschienen war, hätte er ihn wahrscheinlich sofort aus dem Gästehaus geworfen. Ich traute River selbst nicht und fing sogar allmählich an, ihn zu hassen, aber trotzdem wollte ich nicht, dass er von hier fortging. Ich wollte nicht, dass wieder alles so wie vorher wurde – als es nur mich und Luke und Sunshine gegeben hatte, die miteinander flirteten, während ich mich wie das fünfte Rad am Wagen fühlte. Ich wusste zwar noch nicht genau, was ich wollte, aber das wollte ich nicht.
Luke schauderte wieder. »Ich hab in den letzten Tagen schon ein paarmal das verrückte Bedürfnis gehabt, mir … keine Ahnung … eine Mistgabel zu schnappen und den Kerl aus der Stadt zu jagen. Aber wenn ich ihn dann sehe, ist das Bedürfnis plötzlich verschwunden. Außerdem … zwischen euch beiden läuft doch irgendwas, oder? Dabei hast du dich vorher noch nie für einen Typen interessiert … Ich weiß einfach nicht, was ich davon halten soll.«
»Willst du hier auf dem Sofa schlafen?« Ich schlug das nicht nur seinetwegen vor, sondern weil ich plötzlich selbst Angst hatte, in der verdammten Dunkelheit allein in meinem riesigen Zimmer zu sein.
»Als das hier noch Freddies Zimmer war, habe ich oft hier geschlafen«, sagte ich. »Immer wenn ich einen Albtraum hatte, bin ich zu ihr gerannt, und dann hat sie mich aufs Sofa gepackt und mich mit ganz vielen Decken zugedeckt. Ich schlief dann immer sehr schnell ein und alles war wieder gut.«
»Ja, daran kann ich mich auch noch erinnern«, sagte Luke ein bisschen verlegen und gleichzeitig sehr ernst. »Und ja, ich würde gern hierbleiben. Ich kann heute Nacht nicht in mein Zimmer zurück. Das schaffe ich einfach nicht.«
Also gab ich meinem Bruder drei dicke alte Steppdecken und eines von meinen Kissen, packte ihn darin ein, und innerhalb von zehn Herzschlägen war er eingeschlafen. Ich hätte nicht gedacht, dass es so schnell gehen würde. Kaum war ich selbst unter meine Decke gekrochen, fiel ich ebenfalls in einen todesähnlichen Schlaf.
Sechzehntes Kapitel
Als ich am Morgen aufwachte, war Luke fort, dafür stand River frisch und hellwach vor meinem Bett und hielt einen Becher dampfenden Kaffee in der Hand.
»Du bist mitten in der Nacht weggegangen«, sagte er. »Warum?«
»Ich musste nachdenken«, antwortete ich. »Über all das, was du mir erzählt hast. Und zwar allein.«
River nickte, als hätte er mit dieser Antwort gerechnet, und nahm einen Schluck von seinem Kaffee. Ich drehte den Kopf und sah ein neues Lesezeichen auf meinem Nachttisch liegen. Diesmal war es ein Fisch. Ein Hundert-Dollar-Fisch.
»Ich bin nicht zu stolz, das Geld
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