Fuerchte nicht das tiefe blaue Meer
anzunehmen«, sagte ich, obwohl ich eigentlich genau das war. »Ich werde dich also nicht drängen, es wieder einzustecken.«
»Es ist bloß ein Lesezeichen.« River trank noch einen Schluck Kaffee. »Was ist? Bist du mit Nachdenken fertig und kannst mit mir in die Stadt gehen? Ich würde Jack gern einen kleinen Besuch abstatten. Mich vergewissern, dass er gut gefrühstückt hat, und ihn fragen, was er heute so vorhat. Ich habe keine Geschwister, musst du wissen … und ich finde es irgendwie schön, mich für jemanden verantwortlich zu fühlen.«
Würde es den Teufel interessieren, ob ein Kind mit kupferroten Haaren, das für sein Alter viel zu ernst ist, gut gefrühstückt hat?
Aber ja, antwortete Freddies Stimme wie aus der Pistole geschossen. Weil er wüsste, dass du ihn dann noch unwiderstehlicher finden würdest.
»In Ordnung.« Ich ignorierte die Warnung und schob sie in einen weit entfernten Winkel meines Kopfs.
River hatte bereits geduscht und trug eine kaffeebraune Leinenhose, ein weißes James-Dean-T-Shirt, weiß-schwarze Budapester und einen Panamahut – der vielleicht ihm gehörte, den er aber genauso gut gestern von unserem Dachboden mitgenommen haben konnte.
Ich zog die Latzhose an, die meine Mutter im Gewächshaus gefunden hatte, nachdem sie den Gärtner hatte entlassen müssen. Sie hatte sie immer zum Malen angezogen, weshalb sie mit Klecksen in sämtlichen Farbtönen bedeckt war, die es überhaupt nur gab.
River und ich spazierten in die Stadt hinunter. Als wir am Tunnel vorbeikamen, blieb ich stehen und sah ihn an.
»Luke hatte gestern Nacht einen Albtraum«, war alles, was ich sagte, weil es nicht nötig war, mehr zu sagen.
River lachte. Er legte den Kopf in den Nacken und lachte. »Und? Wie hat er ihm gefallen?«
»Er wäre fast durch die Hand eines zehnjährigen toten Mädchens an Mondlicht erstickt. Er hat ihm also nicht besonders gut gefallen.« Ich spürte, wie mein Gesicht zu brennen anfing, wie immer, wenn ich sauer wurde, und wie sengende, rot glühende Wut in mir aufstieg. Ich versuchte, sie zu verbergen, aber es gelang mir nicht.
River zog mich fest an sich. »Es tut mir leid.« Seine Stimme klang aufrichtig, was bei ihm jedoch nicht besonders viel zu bedeuten hatte. »Nach der Ouija-Session konnte ich einfach nicht widerstehen. Die Gelegenheit war einfach zu perfekt. Außerdem finde ich es schrecklich, wie gemein er manchmal mit dir redet. Es verschafft mir Genugtuung, ihn dafür ein bisschen leiden zu lassen.«
Ich blickte zu River auf – seine Haut leuchtete in der Morgensonne und duftete so sauber und salzig wie das Meer, seine Haare waren noch feucht vom Duschen und wirkten fast schwarz – und meine Wut … verpuffte.
»Dann hast du es also deswegen getan?«, fragte ich. »Um ihn zu bestrafen? Und was ist mit Sunshine? Warum hast du ihr so einen Schreck eingejagt?«
»Ihre Art mit dir zu reden gefällt mir genauso wenig.«
»Aber du hast sie doch noch gar nicht gekannt, als du sie im Tunnel dieses entsetzliche Monster hast sehen lassen.«
»Stimmt.« Er lachte wieder. »Die Sache ist die, Vi. Ich leide unter einem beklagenswerten Drang nach Gerechtigkeit, verstehst du? Ja, ich genieße es, das Funkeln in mir zu spüren, und es fällt mir schwer, damit aufzuhören. Aber genauso wenig ertrage ich es, wenn jemand gemein zu Leuten ist, die es nicht verdient haben. Dieses Gefühl ist sehr mächtig, vielleicht sogar mächtiger als das Funkeln.« Er hielt einen Moment lang inne und der spöttische Ausdruck kehrte in seine Augen zurück. »Aber ich genieße es auch, anderen Leuten Streiche zu spielen. Ich schätze, es ist eine Mischung aus beidem, die …«
Ich bin mir sicher, dass meine Miene tiefen Abscheu ausdrückte, aber River tat so, als würde er ihn nicht bemerken. »Hast du deine Gabe deswegen bei Jack und der kleinen Isobel benutzt?«, unterbrach ich ihn. »Weil du anderen gern Streiche spielst?«
Rivers Lächeln erstarb. »Darauf … darauf bin ich nicht stolz. Wirklich nicht. Was das angeht, bin ich zu weit gegangen. Das ist mir klar.«
Ich glaubte ihm nicht, dass es ihm wirklich leidtat. Nicht eine Sekunde lang.
Aber ich wollte es glauben.
»Tu das nie wieder, River. Hörst du? Das ist mein Ernst.«
Er nickte. »Das habe ich auch nicht vor.«
Als wir in Echo angekommen waren, gingen wir in den kleinen Lebensmittelladen und kauften Bananen und warme Schokoladencroissants zum Frühstück. Die Frau an der Kasse lächelte uns an, während River bezahlte.
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