Fuerchte nicht das tiefe blaue Meer
hat ihn nie gegeben, okay? Versprich mir, dass du dich in Zukunft vom Friedhof fernhalten wirst.«
»Ich versuch’s«, antwortete der Junge und rieb sich die Rippen. Dann drehte er sich um und rannte Richtung Ausgang.
Ich sah ihm hinterher, bis die schwarze Nacht ihn verschluckt hatte.
Im nächsten Moment spürte ich, wie sich warme Finger mit meinen verschränkten. »Um den anderen Jungen kümmere ich mich später«, sagte Neely. »Ich weiß nicht, was River mit seinem Funkeln bei ihm angestellt hat, aber … es wird nichts Gutes dabei herauskommen. Ich werde das irgendwie wieder in Ordnung bringen müssen.«
Vom Zirpen und Rascheln der Kreaturen der Nacht begleitet gingen wir zum Haus zurück. Neely hielt meine Hand, bis ich mich irgendwann losmachte.
Als wir beim Gästehaus angekommen waren, fehlte von River jede Spur, und Neely begann das Grundstück nach ihm abzusuchen. Es würde noch ein paar Stunden dauern, bis der Morgen graute. Das Gras war taunass, die Luft feucht und kühl, beinahe kalt, und bis auf das Meeresrauschen in der Ferne herrschte vollkommene Stille. Selbst die Grillen waren verstummt.
Ich ging ins Haus, holte Eiswürfel aus dem Gefrierschrank, stopfte sie in zwei Waschlappen und setzte mich damit auf die Treppe in das Licht, das von der Diele durch die Fenster nach draußen fiel.
Ein paar Minuten später kam Neely zurück – ohne River.
»Hier.« Ich reichte ihm einen Waschlappen.
Er lächelte. »Das ist lieb von dir, danke«, sagte er und drückte ihn sich auf die Schwellung. »Daran könnte ich mich durchaus gewöhnen – an eine zarte weibliche Hand, die sich nach einer Prügelei um mich kümmert, meine ich.« Er blickte stirnrunzelnd ins Dunkel. »Was der andere Junge wohl macht?«
»Ich glaube, über den müssen wir uns nicht den Kopf zerbrechen«, log ich, weil ein Mädchen manchmal zu solchen Lügen greifen muss. »Bestimmt hat River ihn auf dem Nachhauseweg nur irgendein Monster – einen Cthulhu oder so etwas in der Art – sehen lassen.«
»Ja, vielleicht.« Neely lachte. »Ich hätte nicht so fest zuschlagen sollen, aber manchmal treibt mein Bruder mich wirklich in den Wahnsinn. Ich …« Er hob die verletzte Hand und strich sich über die geprellte Wange. »Tut mir leid, dass du das alles mitansehen musstest.«
»Schon gut. Ich hatte selbst schon ein paarmal das Bedürfnis, River zu schlagen.«
»Ich fürchte, da bist du nicht die Einzige.« Neely seufzte und lächelte wieder sein trauriges Lächeln. »Mir ist klar, dass es manchmal wirkt, als würde ich seine Probleme nicht ernst nehmen, aber das täuscht. Ich mache mir große Sorgen um ihn. Und zwar ständig. Ich möchte nur, dass du das weißt.«
»Das tue ich.«
Er grinste schief. »Gibt es eigentlich irgendwas, das dich noch umhauen kann, Vi?«
Ich zuckte mit den Achseln und dachte an Luke und Sunshine, an Freddies Briefe und Daniel Leaps Geheimnis. »Ja. Da gibt es sogar eine ganze Menge.«
Er lachte. »Na gut. Ich werde jetzt noch einen kleinen Spaziergang machen. Wenn River nach Hause kommt, will ich ihm lieber nicht gleich begegnen, weil ich sonst versucht wäre, ihn nochmal zu vermöbeln. Bis später.«
»Ja, bis später.«
Neely ging. Die Eiswürfel in dem anderen Lappen, den ich für River vorbereitet hatte, zerschmolzen und tropften auf den Boden. Ich spielte mit dem Saum des roten Rocks von Freddie, den ich anhatte, und dachte an den blutverschmierten Mund des Jungen, an die aufgeschlitzte Kehle von Rose Redding, an die Briefe und an River.
Ungefähr zwanzig Minuten später tauchte er aus dem Dunkel auf, stolzierte die Stufen des Hauses hinauf und lächelte mich an wie ein verdammter Engel.
»Ich glaube, das ist Neely schon lange mal ein Bedürfnis gewesen.« Er hob lachend die Hand an seine Wange, die übel geschwollen war und bereits anfing, sich zu verfärben. Zwei Brüder, das gleiche Lächeln und Prellungen an der gleichen Stelle.
Ich ging ins Haus zurück, um frische Eiswürfel zu holen. River folgte mir in die Küche und sah zu, wie ich sie in den Waschlappen stopfte, bevor ich ihn ihm wortlos reichte. Das Gefühl, das mich erfasste, als ich in sein zerschundenes, lächelndes Gesicht sah, war intensiv und bitter wie zu starker Kaffee ohne Milch und Zucker.
»Hör auf zu lächeln, River«, schimpfte ich. »Du konntest uns vorhin noch nicht einmal sagen, ob du bei diesem Jungen das Funkeln benutzt hast oder nicht. Ist dir eigentlich klar, wie gefährlich dich das macht? Hast du überhaupt
Weitere Kostenlose Bücher