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Fürchtet euch

Fürchtet euch

Titel: Fürchtet euch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wiley Cash
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einmal tat es so weh, dass ich nicht mal dran denken konnte, das Ding anzufassen. Ich blieb einfach vorgebeugt stehen, die andere Hand aufs Knie gestützt, und ich starrte den Splitter an und sah zu, wie ein Tropfen Blut über die Handfläche lief, die Finger runter und ins Laub fiel. Ich versuchte, einen klaren Kopf zu bekommen und an was anderes zu denken als daran, was sie mit Stump gemacht hatten. Ich hörte Joe Bill hinter mir durch den Wald laufen.
    Er blieb stehen, und ich hörte ihn keuchen, als wäre er außer Atem. Ich wandte den Kopf ab, damit er mich nicht weinen sah, und versuchte eine Faust zu machen, um das viele Blut zu verstecken, aber der Splitter war so groß, dass ich nicht mal die Finger schließen konnte. Ein Blutstropfen war auf meinen Schuh gefallen und lief an der Seite runter ins trockene Laub.
    »Ist schon gut, Jess«, sagte Joe Bill. Er konnte kaum sprechen, weil er so außer Atem war. »Die haben ihm nur die Hand aufgelegt«, sagte er. »Die haben versucht, ihm zu helfen.« Ich blickte zu Joe Bill hoch. Ich sah, dass auch er weinte.

3
    Als ich die Hand in den Fluss tauchte, blieb mir fast die Luft weg, so kalt war das Wasser. Ich ließ das Handgelenk ganz locker werden und schlenkerte mit der Hand, so, wie eine Bachforelle in flachem, felsigem Wasser mit dem Schwanz hin und her schlägt, und ich sah, wie das Blut aus meiner Hand in den Fluss rann wie roter Rauch, der von einem Lagerfeuer aufsteigt. Mit der anderen Hand schöpfte ich Wasser und klatschte es mir ins Gesicht, damit meine Augen nach der ganzen Weinerei nicht zu rot und verschwollen aussahen. Weder Miss Lyle noch Mama, noch sonst wer sollte merken, dass ich geweint hatte, weil ich dann bestimmt nach dem Grund gefragt würde.
    Joe Bill saß ein Stück entfernt am Ufer auf einem großen Felsbrocken und hatte die Arme fest um die Knie geschlungen. Er schaute über den Fluss. Seit wir uns aus dem Wald runter ans Ufer geschlichen hatten, hatte keiner von uns ein Wort gesagt. Ich starrte seinen Rücken einen Moment lang an und dann stand ich auf und schüttelte mir das Wasser von den Händen.
    »Wir dürfen keinem was davon erzählen, hörst du«, sagte ich zu ihm. »Wir hätten das gar nicht sehen dürfen.«
    »Ich weiß«, sagte Joe Bill.
    Ich überlegte, was ich da sagte, und dann sah ich wieder diese Männer vor mir, wie sie auf Stump drauflagen, und ich hörte mich selbst nach Mama schreien. Ich drehte mich von Joe Bill weg, weil ich wieder losheulen musste, und zog mir das Hemd aus der Hose und wischte mir mit dem Zipfel über die Augen. Ich versuchte, mit der rechten Hand nicht ans Hemd zu kommen, um nicht noch mehr Blutflecken draufzumachen.
    »Wir hätten da gar nicht hingehen sollen«, sagte ich. Ich sah nach hinten zu Joe Bill. Er wandte mir das Gesicht zu, und er sah aus, als könnte er auch jeden Moment wieder weinen.
    »Ich glaub, die wollten ihm helfen«, sagte er. »Mr Thompson hat gesagt, es wäre ein besonderer Tag für Stump. Vielleicht haben sie versucht, ihn zu heilen. Vielleicht haben sie ihm die Hände aufgelegt, damit er sprechen kann.«
    »Er hat keine Luft gekriegt!«, schrie ich ihn an. »Er hat versucht, hochzukommen und wegzulaufen, weil er keine Luft gekriegt hat und die nicht mehr von ihm runter sind! Woher willst du wissen, dass sie nicht versucht haben, ihn umzubringen?«
    »Quatsch«, sagte Joe Bill.
    »Woher weißt du das?«, schrie ich. In dem Moment überlegte ich, Joe Bill zu erzählen, was ich sonst noch gesehen hatte: Pastor Chambliss ohne Hemd an, wie er neben der Regentonne stand und auf Stump runterstarrte. Aber dann fiel mir ein, dass Joe Bill in seinem ganzen Leben noch kein Geheimnis für sich behalten hatte, und ich hatte schon Angst, er würde irgendwem erzählen, was wir gerade gesehen hatten.
    Ich kniete mich wieder hin und hielt die Hand ins Wasser. Der Splitter war durch die Nässe ein bisschen weicher geworden, aber es tat noch immer zu weh, um eine Faust zu machen, damit Mama nichts merkte. Ich wusch das Blut von der Hand und klatschte mir noch mal Wasser auf die Augen. Flussabwärts hörte ich Miss Lyle den Kindern zurufen, sie sollten aufhören zu spielen und den Weg rauf zur Straße gehen, und ich wusste, dass die Kirche aus war und wir bald nach Hause fahren würden. Wir saßen da und hörten, wie sie nach uns rief.
    »Ich glaub, wir sollten gehen«, sagte Joe Bill.
    »Du darfst keinem was sagen, Joe Bill«, sagte ich. »Du darfst keinem auch nur ein Sterbenswörtchen sagen.

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