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Fürchtet euch

Fürchtet euch

Titel: Fürchtet euch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wiley Cash
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zwischen uns und starrte geradeaus, als säßen wir nicht rechts und links von ihm. Ich hielt die Hand mit dem Splitter drin vorsichtig auf dem Knie, um nicht irgendwo gegenzustoßen. Sie hatte sich schon rot verfärbt, aber wenigstens blutete sie nicht mehr.
    »Was soll ich dir denn erzählen?«, fragte ich zurück. Es war heiß im Pick-up, und Mama kurbelte ihr Fenster runter, und die Luft strömte rein und wehte ein paar zerknüllte Blätter Papier auf dem Armaturenbrett hin und her. Ich hätte auch gern mein Fenster aufgemacht, aber ich wollte mir nicht den Wind ins Gesicht blasen lassen.
    »Du sollst mir erzählen, wie du dir diesen dicken Splitter eingefangen hast«, sagte sie. »Du sollst mir noch mal erzählen, wie du das hingekriegt hast.«
    Ich blickte in den Seitenspiegel, kurz bevor wir in die Kurve bogen, die zum Highway raufführte. Ich konnte die Kirche hinter uns im Spiegel sehen, und noch immer standen eine Menge Leute draußen auf dem Parkplatz rum. Ich sah Mr Gene Thompson, der sich mit ein paar Männern direkt an der Straße unterhielt, und ich hätte schwören können, dass ich sah, wie er sich umdrehte, als würde er uns hinterherschauen, wie wir Richtung Highway fuhren.
    »Ich und Joe Bill haben nach der Sonntagsschule Steinehüpfen gespielt«, sagte ich. »Gleich nachdem Mr Thompson Stump geholt hat. Ich hab ein altes Brett gefunden und damit Steine weggeschlagen wie beim Baseball. Joe Bill hat geworfen. Ich hab das Brett nicht richtig festgehalten, und es ist mir aus der Hand gerutscht, und da hab ich den Splitter abgekriegt.«
    Mama warf einen Blick auf meine Hand und sah dann wieder auf die Straße. Ich hörte sie seufzen.
    »Das Brett muss aber ganz schön morsch gewesen sein, dass du so einen dicken Splitter abbekommen hast.«
    »War es auch«, sagte ich. Sie schwieg eine Sekunde, und ich versuchte wieder, die Finger zu krümmen, aber das Blut war schon verkrustet und ganz steif geworden, und jetzt war es noch schwieriger als vorher, eine Faust zu machen.
    »Jess«, sagte Mama.
    »Ja, Ma’am?«
    »Sagst du die Wahrheit?«
    »Ja, Ma’am.«
    »Wenn ich Joe Bills Mama anrufe und sie bitte, ihn zu fragen, wie das passiert ist, meinst du, er erzählt dann dieselbe Geschichte mit dem Baseballschläger?«
    »Es war kein Schläger«, sagte ich.
    »Du weißt, was ich meine«, sagte Mama. »Wird Joe Bill sich an die Sache genauso erinnern, wie du sie mir erzählt hast?«
    »Ja, Ma’am«, sagte ich, aber ich wusste, dass er etwas anderes erzählen würde, weil er gar nicht wusste, was ich ihr erzählt hatte. Ich wusste, wenn ich die Wahrheit sagte, woher ich den Splitter hatte, dann musste ich auch erzählen, dass ich gesehen hatte, was sie mit Stump gemacht hatten. Und dann würde ich ihr vielleicht auch erzählen, wie die Regentonne umgekippt war und wie rosa und schrumpelig Pastor Chambliss’ Körper ausgesehen hatte, als er ohne Hemd um die Ecke von unserem Haus kam. Ich saß da und starrte aus dem Fenster und dachte darüber nach. Davon wurde mir heiß im Nacken, und ich spürte mein Herz ganz fest schlagen, und ich fühlte es in meiner Hand schlagen, als wäre es unter dem Splitter eingeklemmt. Ich wünschte mir, ich könnte die Zeit zurückdrehen und damit aufhören, all die Sachen zu sehen, die ich in den letzten zwei Tagen gesehen hatte, aber ich wusste, es gab keinen Weg, irgendwas davon jetzt ungeschehen zu machen, ganz gleich, wie sehr ich das auch wollte.
    Mama bremste an dem Stoppschild oben auf dem Berg ab, und dann gab sie wieder Gas, und wir bogen nach links auf den Highway, in die Richtung, wo wir wohnten. Als wir schneller wurden, wehte der Wind noch stärker durchs Fenster herein und blätterte die Seiten von Mamas Bibel auf, die auf dem Armaturenbrett lag. Ich blickte auf die Seiten, die vom Wind umgeschlagen wurden, und ich sah, dass Mama fast auf jede irgendwas geschrieben hatte. Sie kurbelte ihre Scheibe hoch, und dann hob sie den Arm und schloss die Bibel und drückte sie auf den Sitz zwischen ihr und Stump.
    »Jess«, sagte sie wieder.
    »Ja, Ma’am?«
    »Ich muss mit dir über etwas reden.« Ich wandte mich ab und schaute wieder aus meinem Fenster, weil ich sie nicht ansehen wollte, wo ich doch schon wusste, was sie sagen würde. Ich wusste, sie würde fragen, ob das stimmte, was Mr Gene Thompson ihr erzählt hatte, dass er mich und Joe Bill beim Spionieren gesehen hätte. Und dann würde sie wissen wollen, warum ich nicht die Wahrheit darüber gesagt hatte, wie ich

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