Fürchtet euch
wollen.«
Er drehte sich zu mir um, damit er mich besser sehen konnte.
»Wo ich gewesen bin, ist nicht so wichtig wie, dass ich jetzt hier bin«, sagte er. Ich schaute weg von ihm zum Fenster. Ich dachte daran, dass ich tagsüber von hier die Tabakfelder von meinem Daddy sehen konnte, bis rauf zur Straße. Ich schaute zum Fenster, aber ich wusste, dass mein Grandpa mich ansah.
»Vielleicht nehme ich dich irgendwann mal mit zu mir«, sagte er. »Zeig dir, wo ich aufgewachsen bin. Wir fahren hoch zu der alten Hütte, wo ich geboren bin und wo dein Daddy groß geworden ist. Vielleicht suchen wir ganz oben auf dem Feld nach Pfeilspitzen. Meinst du, du hättest Lust dazu?«
»Klar«, sagte ich, und dann dachte ich daran, wie gern Stump auch nach Pfeilspitzen gesucht hatte, damit wir sie auf das Regal mit zu unseren Steinen legen konnten. »Ich wünschte, mein Bruder könnte mitkommen.«
»Ich auch, Kleiner«, sagte er. »Es ist furchtbar, dass er nicht dabei sein kann. Aber weißt du, was du machen kannst?«
»Was denn?«
»Du kannst ihn in Erinnerung behalten«, sagte er. »Das ist die beste Möglichkeit, um Menschen nahezubleiben. Meine Mama und mein Daddy sind schon so lange tot, dass ich sie mir kaum noch vorstellen kann, und ich muss mich an meine Erinnerungen halten und hoffen, dass sie richtig sind. Vielleicht sehe ich Mama und Daddy eines Tages wieder, und sie sind genauso, wie ich mich an sie erinnere. Vielleicht auch nicht, aber ich hoffe es.«
»Du meinst, im Himmel?«
»Ja«, sagte er. »Im Himmel.« Ich lag da und stellte mir vor, wie ich Stump im Himmel wiedersah, und dann fiel mir ein, was Joe Bill über Stump gesagt hatte, dass er weder singen noch sprechen, noch sonst was konnte.
»Meinst du, Stump kann sprechen, wenn er in den Himmel kommt?«, fragte ich ihn.
»Natürlich kann er das«, sagte er. »Da können wir alle sprechen.« Er zog mein Laken höher. »Und wir können uns alle gegenseitig verstehen.« Er stand wieder auf, und dann bückte er sich und stopfte umständlich das Laken um mich herum fest. Er ging zur Tür, legte die Hand an den Knauf und trat raus auf den Flur.
»Willst du die Tür auf oder zu haben?«, fragte er.
»Zu«, sagte ich.
Ich lag im Bett in der Dunkelheit und lauschte auf das Zirpen der Grillen draußen und die kleinen Geräusche, die das Haus machte, wenn es zur Ruhe kam. Das hatte Mama immer gesagt, wenn ich irgendwas hörte, das mir Angst machte.
»Das sind bloß die Geräusche, die das Haus macht, wenn es zur Ruhe kommt«, sagte sie dann. »Es macht es sich gemütlich, damit es auch gut schläft.«
Ich sah das Licht von der Küche unter meiner Tür und hörte, wie mein Grandpa Schränke und Schubladen öffnete und schloss, als würde er irgendwas suchen. Ich hörte, wie er auch die Tür von Mamas und Daddys Schlafzimmer öffnete und reinging. Ich drehte mich von unserer Zimmertür und von Stumps Seite des Bettes weg und sah zum Fenster raus.
Es ging nur ein ganz kleines bisschen Wind, und ich konnte spüren, wie er mir ins Gesicht wehte, und ich konnte sehen, wie er die Äste im Baum vor dem Fenster bewegte, und ich konnte hören, wie er das Windspiel klimpern ließ. Wenn Tag gewesen wäre, hätte ich bis auf die Felder gucken und sehen können, wie die Spitzen von den Tabakpflanzen hin und her schaukelten. Noch immer waren einige Glühwürmchen unterwegs, und ich sah, wie sie mit blinkenden Lichtern über den Hof schwebten. Mir wurden die Augen schwer, und gleich darauf sank ich schließlich in den Schlaf, und als ich aufschaute, saß ich in Miss Lyles Haus am Tisch im Esszimmer. Ich glaubte nicht, dass außer mir noch jemand da war.
Ich hörte die Fliegentür zuknallen und fragte mich, ob jemand ins Haus gekommen war oder ob bloß jemand nach draußen auf die Veranda getreten war. Ich saß so still, wie ich konnte, an dem Tisch, und ich lauschte angestrengt, und kurz darauf hörte ich Schritte auf dem Kies knirschen. Es klang, als würden sie vom Haus weg die Einfahrt run- ter Richtung Straße gehen, und ich fragte mich, wohin sie gingen. Ich fragte mich, ob das Daddy war, der zum Krankenhaus wollte, oder ob es der Sheriff war, nachdem er bei Stump und Mama in dem Schlafzimmer gewesen war, oder vielleicht war es auch Miss Lyle, die nach draußen ging, um den Männern das Blut aus dem Gesicht zu wischen. Ich konnte die Schritte bald nicht mehr hören, aber ich wusste, dass sie nicht stehen geblieben, sondern einfach weiter die Straße runtergegangen
Weitere Kostenlose Bücher