Fuerstin der Bettler
sein, als würden sie sich auf den schmalen Fäden eines Spinnennetzes bewegen und immer wieder auf dieselben Gabelungen stoßen.
»Hat es den Gang während eurer Zeit in diesem Haus auch schon gegeben?«, fragte Hannah.
Die Schwarze Liss drehte sich zu Hannah um. Beide musterten sich eindringlich.
Hannah sah in Liss’ Gesicht noch immer den Schatten des Schreckens, der sie aus dem Haus getrieben hatte.
»Wenn es den Gang zu der Zeit, als dein Vater und du hier gewohnt habt, schon gegeben hat, dann würde sich erklären, warum ... nun, warum das Haus unbedingt ...«
»Willst du jetzt meinen Vater beschuldigen, dass er hier etwas Unrechtmäßiges getan hat«, zischte die Schwarze Liss Hannah an. In ihren Augen glomm ein gefährliches Licht.
»Nein, aber es würde erklären, warum das Grundstück so wertvoll war, dass man seinen Tod in Kauf nahm.«
Die Schwarze Liss verengte die Augen zu Schlitzen. »Du denkst zu schnell für mich, Röttel. Was soll der Gang erklären?«
Hannah zügelte sich. Sie konnte die Liss gut verstehen. Wenn sie an den Brand dachte, schossen auch ihr die Tränen in die Augen, ohne dass sie sich dagegen wehren konnte. Schlimme Erinnerungen peinigten die Menschen noch Jahre später.
»Der Gang führt unter der Mauer hindurch. Er endet in einem Bürgerhaus. Und jetzt stell dir vor, du kannst ungesehen in die Stadt hinein und wieder hinaus. Kein Torwächter stellt dummeFragen. Niemand kann dich nachts daran hindern, die Stadt zu verlassen oder zu betreten.«
»Dann hätten sich die Mörder meines Vaters beinahe fünf Jahre Zeit gelassen«, spottete die Schwarze Liss, während sie Hannah aufmerksam betrachtete.
»Vielleicht war es nicht die Zeit, die ihnen im Wege stand.«
»Pst. Pst!« Die beiden Frauen wurden in ihren Überlegungen unterbrochen. »Weg! Weg mit euch!«, rief die Stimme.
Hannah und Liss schauten umher, doch sie sahen niemanden. In Liss’ Miene kehrte das Entsetzen zurück, und ihr eben noch strenger Gesichtsausdruck begann ihr zu entgleiten.
»Hier oben!«, zischte es über ihnen, und beide Frauen blickten an der Stadtmauer empor. Aus einer der Scharten winkte eine Hand. »Weg hier. Schnell! Da kommen Leute!«
Obwohl Hannah nicht wusste, wer das war und warum er sie warnte, begriff sie doch, dass sie und die Liss in Gefahr schwebten. Sie packte die Bettlerin am Arm und zog sie hinter sich her zu einem Gebüsch, das der Knöterich zu einer beinahe undurchdringlichen Wand geformt hatte. Sie schlüpften unter das Grün und hockten sich nieder.
»Wer war das?«, fragte die Liss, noch ganz außer Atem.
Hannah zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es auch nicht.«
Sie schwieg, während sie aufmerksam auf die Geräusche um sie herum horchte. Doch sie hörten nichts. Von ihrem Versteck aus konnten sie den Weg herauf vom Graben überblicken, sahen die Tür des Hauses und die dem Graben zugewandte Seite. Eines der Fenster zeigte zu ihnen, aber es war durch einen Pergamentbogen verschlossen und sah aus wie blind. Auch einen Teil der Stadtmauer behielten sie im Auge.
»Vielleicht hat sich jemand einen Spaß mit uns erlaubt. So etwas soll vorkommen.« Die Schwarze Liss atmete hörbar ein und aus. »Aber ich verstehe vieles langsam nicht mehr.«
»Was war das für ein Wesen im Keller?«, flüsterte Hannah, doch sie bekam keine Antwort, denn nun vernahmen sie die Tritte von Stiefeln, schweres Atmen und leise Flüche. Dann sahen sie durch das Gestrüpp, wie ein paar Köpfe sich vorbeibewegten. Drei Männer stapften den Hang herauf. Schließlich erkannten sie, dass zwei der drei Männer einen Sack auf dem Rücken trugen. Sie hörten, wie der Mann ohne Last auf dem Rücken sagte: »Wir hätten nicht hochkommen dürfen. Das ist zu riskant.« Der Mann war lang und dürr. Sein Gesicht glich einer Maske. Es wirkte eigenartig starr und schien ohne sichtbare Gefühlsregungen.
Die Liss stieß Hannah an. »Den kennen wir«, flüsterte sie ihr zu. »Das ist einer von den Schmugglern.«
Hannah nickte. Auch sie hatte die Männer sofort erkannt. Es waren die drei Schmuggler, denen sie schon einmal begegnet waren.
Der kräftigere von den dreien stellte seinen Sack vor dem Haus auf den Boden und suchte mit flinken Augen die Umgebung ab. Auch das Mauerstück wurde einer Untersuchung unterzogen.
»Ihr habt die Schreie doch auch gehört. Glaubt ihr vielleicht, das war Zufall? Da hat jemand unsere Freundin gefunden.«
»Jetzt mal nicht zu schwarz, Hilgert. Wer soll hier schon herkommen?«
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