Fuerstin der Bettler
ihnen und erwartete, dass sie vor einer Mauer einfach aufhören würden. Doch die Fußabdrücke führten zu einem alten Schrank im Flur, der, wie drei weitere Schränke, zur Aufbewahrung von Wäsche und liturgischen Gegenständen diente.
Vor der Schranktür endeten die Spuren.
War der Kerl durch den Schrank gegangen, weil ihm die Mauern zu dick waren? Bruder Adilbert hob die Brauen. Dann griff er nach der Tür und zog sie auf. Sie ließ sich geräuschlos öffnen. Im Schrank befanden sich rechts eine Reihe mit Schubladen, links hingen an einer Stange mehrere Mönchskutten. Es waren die Kutten verstorbener Brüder, die für einige Zeit dort aufbewahrt wurden, um dann an neu Ordinierte weitergereicht zu werden.
Bruder Adilbert griff zwischen die Kutten und schob sie beiseite.
Dahinter trat die hölzerne Rückwand zutage. Bruder Adilbert tastete sie ab. Nichts deutete auf einen Durchgang hin. Dann betrachtete er prüfend den Boden des Schranks und nickte. Deutlich waren zwei Fußabdrücke zu sehen, die ... Bruder Adilbert stutzte ... nicht zur Rückwand zeigten, sondern nach rechts, zur Schubladenseite. Vorsichtig ließ er die Kutten zurückschwingen, schob sie alle zur linken Außenwand und tastete die Schubladenwand ab. Tatsächlich ertastete er einen schmalen Spalt, so als wäre die Wand geteilt. Vorsichtig drückte er dagegen – und tatsächlich öffnete sich eine Tür, die gerade so schmal war, dass sich ein schlanker Mann hindurchzwängen konnte.
Bruder Adilbert knurrte vor Genugtuung, und sein Herz schlug einen rasenden Takt. Er hatte also den Weg gefunden, den dieser Teufel für gewöhnlich nahm. Am liebsten hätte er laut herausgeschrien, dass er diesen Kerl und seinen Mummenschanz schon halb aufgedeckt hatte.
Er ließ die Kutten vorsichtig wieder zurückgleiten, schloss leise die Tür des Schranks und versuchte sich das Gebäude vorzustellen. Wenn er sich den Grundriss vor Augen führte, dann musste in dieser Mauer entweder eine Treppe beginnen oder aber ein Leiterschacht in die Tiefe führen.
Morgen oder übermorgen würde er hindurchgehen.
Morgen oder übermorgen würde er dem Fremden auf die Schliche kommen.
9
W ie ein Geist war beim Dom die grobschlächtige Frau vor Hannah und der Schwarzen Liss aufgetaucht und hatte beide unsanft aus der Menge vor der Heilig-Drei-König-Kapelle gezogen. Die Schwarze Liss hatte gerade noch Gelegenheit gehabt, Hannah zuzuraunen: »Die Dicke Fanny! Die hat mir gerade noch gefehlt ...« Jetzt standen sie vor dem Domstadttor und stritten miteinander.
»Sie ist nicht die Röttel!«, sagte die Dicke Fanny und deutete auf Hannah und musterte sie von Kopf bis Fuß.
»Du musst dich täuschen«, antwortete ihr die Schwarze Liss. »Sie war fast vier Wochen in den Hexenlöchern.«
»Hältst du mich für blöde?«, blaffte die Bettlerin die Schwarze Liss an.
»Muss ich ehrlich sein, oder darf ich lügen?«, versetzte diese keck.
Zornig holte die Dicke Fanny aus und schlug mit dem Handrücken zu. Sie traf Liss an der Lippe. »Die Röttel – nie und nimmer!«
Die Schwarze Liss fuhr sich mit der Zunge über den Riss in der Lippe, aus dem ein dicker Tropfen Blut quoll.
»Wag es ja nicht, dich auf meine Kosten lustig zu machen, solange du in meinem Bezirk arbeitest, Liss.«
Auch wenn Liss gleichgültig mit den Schultern zuckte, spürte Hannah, dass sie dieser Frau nichts weniger als die Pest an den Hals wünschte.
Sie stand stumm dabei, wie die Bettlerin ihr geraten hatte. Langsam begann sie zu begreifen, dass die Stadtarmen nach einer bestimmten Ordnung arbeiteten, die sich nach der Gottesdienstordnung der Kirchen richtete, denen sie zugeteilt waren. Der Röttel, so hatte die Liss ihr verraten, war den Kirchen Sankt Jakob, Sankt Moritz und der Heilig-Drei-König-Kapelle vor dem Dom zugewiesen sowie gegen Abend der Kirche Heilig Kreuz. Dorthin würde die Schwarze Liss sie nicht begleiten können, da sie selbst bei Sankt Ulrich betteln müsse. Männer und Frauen waren offenbar in Riegen eingeteilt, die zu unterschiedlichen Zeiten an unterschiedlichen Orten die Hände nach Almosen ausstreckten.
»Das kostet mindestens zwei Heller. Ich kenne alle meine Frauen – und das ist nicht die Röttel! Die ist viel zu fett.«
Die Dicke Fanny war nicht eigentlich dick. Sie hatte jedoch offenbar durch mehrere schwere Geburten einen Kinderbauch zurückbehalten, der sich nicht zurückgebildet hatte. Dabei war ihr Gesicht so knochig, dass sie gut und gern als Vorbild des
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