Fuerstin der Bettler
geboren haben und deshalb nicht betteln können. Sie bezahlt Begräbnisse. Oder willst du einfach auf den Schindanger kommen? Unsereins ist noch nicht einmal so viel wert wie ein kranker Gaul. Und sie bezahlt die Geistlichen, die ein paar tröstende Worte am Grab sagen. Dafür ist das Geld. Und es ist herzlich wenig.«
Hannah senkte den Kopf vor Scham. Sie hatte keine Ahnung gehabt. Sie hatte überhaupt so wenig Ahnung von diesem Leben. »Entschuldige«, wisperte sie.
Dann saßen die Frauen stumm auf der Bank und genossen einfach das Dunkelwerden in der leeren Kapelle. Die Stille hier drinnen nahm fast Gestalt an und wurde zu einem tröstlichen Balsam, der sich auf die geschundenen Seelen legte.
Langsam erkannte Hannah, in was sie sich da verstrickt hatte. Tagsüber hatte sie nur versucht, sich etwas zu essen zu beschaffen, sich unauffällig zu bewegen und die Rolle der Röttel einzunehmen. Jetzt, nachdem im Kircheninneren der Abend spürbar wurde und sich verdichtete, wurde ihr schlagartig klar, dass unter der Röttel, zu der sie langsam wurde und zu der sie sich heute zum ersten Mal bekannt hatte, auch noch eine Hannah Meisterin steckte. Nur dass diese langsam begraben zu werden drohte. Sie wollte das nicht, doch sie wusste nicht, wie es zu verhindern war. Sie war ja ein Niemand. Sie konnte noch nicht einmal beweisen, dass sie lebte. Ihr abgebranntes Haus gehörte einer Toten, keiner Lebenden. Sie konnte also noch nicht einmal ihr Dasein rechtfertigen; schließlich waren drei Leichen gefunden worden. Damit hatte man ihr nicht nur die Gegenwart genommen, sondern auch die Zukunft, ihre einzige Zukunft: Gera. Sie spürte, wie ihre Unterlippe zu zittern begann und wie Trostlosigkeit sich in ihr ausbreitete, sodass sie sich am liebsten auf den steinernenFußboden der Kapelle geworfen hätte, um dort für eine Schuld Abbitte zu leisten, die sie sich aufgeladen haben musste, sonst hätte Gott der Herr sie nicht so hart bestraft. Dabei war sie sich einer solchen Schuld nicht bewusst.
Sie wollte sich eben aus dieser Düsternis losreißen, wollte aufstehen, als die Tür zur Kapelle aufgedrückt wurde.
»Los, hier rein!«, hörte sie eine Stimme – und diese ging ihr durch und durch. Sie fasste neben sich nach der Hand der Schwarzen Liss.
»Es wird nichts passieren. Du gehst vor bis zum Altar und wartest dort.«
Ein Kind stolperte in die Kapelle und stakste durch den leeren Innenraum bis zum Allerheiligsten. Dort blieb es einfach stehen. Das Kind trug ein dünnes grünes Kleid ohne Saum, das sich an den Rändern aufzulösen begann.
Hannah spähte zur Kapellentür, doch der geöffnete Flügel verwehrte ihr den Blick auf den Mann selbst.
»Er wird gleich kommen. Nur Geduld«, sagte die Stimme beschwörend. Dann fiel das Portal wieder zu, und das Innere der Kirche füllte sich mit einer beinahe unerträglich drückenden Stille. All das Sanfte, Beruhigende, Umfangende war verschwunden und hatte etwas Bedrohlichem Platz gemacht. Hannah und die Schwarze Liss wagten kaum zu atmen. Sie drückten sich kurz stumm die Hand: Sie waren eindeutig am falschen Ort und mussten etwas miterleben, was nicht für ihre Augen und Ohren bestimmt war.
Hannah hörte, wie das Kind leise zu weinen begann. Schließlich hockte es sich auf den Boden vor dem Altar, schluchzte und wimmerte.
Hannah zog die Schwarze Liss an der Hand, um dieser zu bedeuten, sie sollte mit ihr zusammen zu dem Kind gehen. Doch die Bettlerin saß starr da und wie versteinert. Hannah konnte sienur schemenhaft erkennen und sah, wie sie energisch den Kopf schüttelte.
Hannah glaubte, es müsse sie innerlich zerreißen. Sie konnten das Kind doch nicht einfach im Stich lassen.
»Aber wir müssen doch helfen!«, hauchte Hannah endlich.
Sofort hörte das Wimmern auf.
»Ist da jemand?«, fragte die Kleine. »Bitte, ist da jemand?«
Die Schwarze Liss packte Hannah mit eisernem Griff am Handgelenk, damit die der Kleinen nicht antwortete. Ein Kloß bildete sich in Hannahs Kehle. Das Mädchen, das so mutterseelenallein in dieser dunklen Kapelle hockte und warten musste, tat ihr unglaublich leid.
Was tat es überhaupt hier?
Als würde ihre Frage unverzüglich beantwortet, ging die Seitentür der Kapelle auf, die aufs Finstre Grät, auf den Friedhof, hinausführte. Ein Husten kündigte einen Mann an. Von ihrem Platz aus konnte sie im Schein des letzten Tageslichts, das von außen hereinfiel, einen dunkel gekleideten Kerl sehen, der eine Kappe auf dem Kopf trug. Er ging
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