Funkensommer
Mama auf einmal zu mir um und funkelt mich aus schmalen Augenschlitzen an. »Lass Raphael aus dem Spiel! Er hat es eh schon schwer genug«, zischt sie zornig. »Und jetzt geh! Papa wartet!«
Daraufhin stürme ich aus dem Stall. »Ihr seid so was von scheiße«, brülle ich ihr nach und grapsche nach dem Handy, um Jelly anzurufen. Später auch Finn. Aber das mache ich erst, als ich auf dem Feld bin. Da hört mich wenigstens niemand.
Nachdem mich Jelly ein Weichei genannt und Finn mir versichert hat, dass er mich sehr vermissen wird, macht sich ein wohlbekanntes Gefühl in mir breit. Wieder einmal komme ich mir vor wie Aschenputtel höchstpersönlich. Nur dass ich dieses Mal, statt einem Ferkel das Leben zu retten, dessen Dreck aufs Feld bringen muss.
Was für ein mistiges Leben!
Anfangen, und dann?
Eines steht fest! So kann es nicht weitergehen! Meine Eltern haben einen Vogel! Besser gesagt, einen Riesenvogel! Und den lassen sie an mir aus! Sonderbar, dass mir ausgerechnet Papas Bauernkalender am nächsten Tag die Augen dafür öffnet, dass ich etwas unternehmen muss. Während ich am frühen Morgen aus dem Haus schleiche, geistert mir der Spruch des Tages unaufhörlich im Kopf herum: Beispiele tun mehr als Wort und Lehr’ hat auf dem Blatt gestanden, und da muss ich Papas Bauernkalender ausnahmsweise recht geben. Wenn ich nicht bald etwas unternehme, werden mich Mama und Papa nie ernst nehmen! Hastig schnappe ich mir das Fahrrad und haue ab, bevor sie mich wieder zur Arbeit einteilen können. Es ist über Nacht deutlich kühler geworden. Jedenfalls bin ich nicht durchgeschwitzt, als ich das Rad vor Karos Frisierstube abstelle.
»Na, wer schneit denn da herein?!« Meine Freundin schenkt mir ein bitterböses Lächeln, als ich die schmale Treppe hinauflaufe und den Kopf durchs Geländer stecke. »Ist das nicht? Keine Ahnung, wer bist du überhaupt?«, meint sie bissig. Sie lümmelt auf dem Küchensofa und schlürft Kakao aus einer Jumbotasse, ohne von ihrer Jetztbestrafen-wir-Hannah-Tour abzuweichen. Mit gespielt neugieriger Miene sieht Jelly mich an und fragt: »Kann ich dir irgendwie helfen?«
»Ja, schon gut«, seufze ich und lasse mich neben sie aufs Sofa plumpsen. »Sei du ruhig sauer auf mich! Vor allem, weil ich ja gestern freiwillig zu Hause geblieben bin. Die Gülle auszubringen war ja um so viel schöner, als mit euch ins Kino zu gehen!«
Jelly schnaubt. »Igitt, ich hoffe, du hast dich gründlich gewaschen …«
»Nein, ich dachte, das erledigst du für mich!«
Meine Freundin schaut mich verdutzt an. Dabei fängt ihre Jetzt-bestrafen-wir-Hannah-Miene heftig zu bröckeln an. »Wie bitte?«
»Na, ich wollte dich fragen, ob du mir heute die Haare schneidest. Wenigstens die Stirnfransen.«
Wie auf Kommando schnellt Jellys linke Augenbraue hoch. »Was? Du lässt mich freiwillig an deine Haare heran? Wie ist das möglich? Habe ich irgendetwas versäumt?« Ihre Jetzt-bestrafen-wir-Hannah-Miene ist jetzt endgültig verschwunden.
Zufrieden lehne ich mich zurück und lächle. »Ich weiß auch nicht. Mir ist einfach danach …«, erkläre ich. Weil das ja auch irgendwie stimmt. »Klar, meine Eltern drehen völlig durch. Seit unserer Zimmerverschönerungsaktion verhalten sie sich sehr merkwürdig. Ich glaube, Gnist und Sommar haben sie auf die Schliche gebracht. Mama scheint irgendetwas zu ahnen. Jedenfalls kommt es mir so vor.«
Jelly sieht mich ungläubig an. »Und deshalb willst du dir die Haare schneiden lassen? Versteh mich nicht falsch – ich schneide sie dir gern. Du kannst alles haben, was du willst. Je flippiger, desto besser. Du kennst mich ja!« Sie grinst. »Aber … bist du dir sicher, dass du das auch willst? Ich kann mich noch vage daran erinnern, als ich dir einmal Strähnchen machen wollte. Alleine fürs Fragen bist du mir an die Gurgel gegangen. Weißt du noch?«
Ich nicke langsam. »Ja, so ein Zufall. Daran habe ich auch erst kürzlich gedacht, wegen dem Foto.«
»Welches Foto?«, will sie wissen.
»Das ich in Raphaels Zimmer gefunden habe. Es lag gut versteckt auf seinem Nachttisch. Du warst übrigens auch drauf!«
»Wirklich?«
»Ja! Du und Raphael. Mit Sebi und Manuel. Ich weiß zwar nicht, wann ihr das Foto gemacht habt, aber es muss kurz nach dem Strähnchenunfall gewesen sein. Raphaels Haare leuchteten nur so im Blitzlicht!«
Jelly verdreht die Augen. »Erinnere mich bloß nicht daran. Das war so peinlich!!!«, stöhnt sie. »Als ich die Farbe aus seinen Haaren gewaschen
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