Funkensommer
gestern in die Gülle gefallen ist«, sie kichert, »wollten Finn und Tobias stattdessen in die Stadt. Ins Q10, soweit ich weiß.«
»In die Disco? Ich dachte, ihr würdet zu Hause bleiben. Bist du denn nicht mit ins Q10? Tobias war doch sicher auch dabei, oder?«
Sie verzieht das Gesicht. »Ja, schon. Aber irgendwie hatte ich dann keine Lust mehr darauf.«
»Auf Tobias?«, frage ich überrascht.
Jelly nickt. »Das erzähle ich dir später, okay?« Und mit einem Blick auf die ungeduldige Braut raunt sie mir zu: »Ich habe hier zu tun …«
»Schon klar«, antworte ich und bin im nächsten Augenblick auch schon aus der Ladentür verschwunden.
Ich lenke mein Rad in Richtung See. Wohin auch sonst? Denn wenn ich ratlos bin oder meine Ruhe haben möchte, fahre ich dorthin. Dann springe ich ins tiefe schwarze Loch. Oder ich setze mich, wenn es das Wetter nicht anders erlaubt, auf den Jungfrauenfelsen, greife nach einer der vielen Kamillenblüten, deren Stauden dort wild aus den Felsenritzen wuchern, und befrage das Orakel. Mein Orakel. Auch heute mache ich es. Gedankenversunken pflücke ich eine der vielen Blüten und fange sorgsam an, ihre Blätter auszurupfen, während ich: Ich rufe ihn an – ich rufe ihn nicht an – ich rufe ihn an, murmle. Das Spiel habe ich schon als Kind gerne gemacht. Am liebsten mit Raphael, wenn er mich geärgert hat, wobei ich damals: Er ist doof – er ist nicht doof – er ist doof ausgezählt habe. (Das kann ich mir aber mittlerweile sparen, weil ich ja weiß, dass er doof ist!) Und auch wenn das Orakelspiel kindisch ist, hoffe ich, dass es mir eine richtige Antwort beschert. Immerhin wächst meine Orakelkamille an einem besonderen Ort, und die Wahrscheinlichkeit, dass ein bisschen Hexenmagie durch die zarten Kapillargefäße der Pflanze fließt, ist nicht unbedeutend. Jedenfalls nicht für mich.
Und tatsächlich: Wenig später zupfe ich das letzte Blättchen vom Blütenkelch mit der Botschaft: Ich rufe ihn an!
So ein Glück! Anders hätte ich es ja doch nicht ausgehalten. Ich will Finn unbedingt sehen! Nervös wähle ich seine Nummer und lasse läuten. Lange, zähe Sekunden verstreichen, ehe ich am anderen Ende ein Röcheln vernehme.
»Ja?«, krächzt er.
»Ich bin es, Hannah. Ich wollte dich fragen … besser gesagt, ich wollte dir sagen, dass ich gerade Zeit hätte«, druckse ich herum. Oh, Mist – ist mir das peinlich!
Finn gähnt geräuschvoll. »Wie spät ist es eigentlich?«
»Schon fast neun.«
»Was? Noch so früh? Wo bist du?«
»Am See«, antworte ich.
»Gut«, sagt er. »Dann komme ich auch! Kann aber noch etwas dauern.«
Ein glückliches, unheimlich erleichterndes Kribbeln breitet sich in meinem Körper aus. »Kein Problem«, hauche ich und lege auf.
Dann verstreichen noch einmal viele zähe Minuten, bis es endlich im Unterholz raschelt und Finns heller Haarschopf zwischen dem Blätterwerk zum Vorschein kommt.
»Du bist aber schon früh unterwegs.« Müde lächelnd lässt er sich neben mich auf dem Felsen nieder. »Heute mal keine Gülle?«
»Keine Ahnung«, antworte ich. »Bin abgehauen. Hatte keine Lust dazu …«
Finn gähnt. »Kann ich verstehen!«
»Und? Wie war’s bei dir gestern noch so?«, will ich wissen, um vom Thema abzulenken. Immerhin gibt es etwas Interessanteres als Gülle!
Finn zuckt mit den Schultern. »Ging so. Tobias wollte unbedingt ins Q10, weil er geglaubt hat, dass dort eine Beachparty im Gange ist. Dabei steigt die Party erst heute Abend.« Er verzieht den Mund. »Deshalb will er heute wieder hin.«
»Ich dachte, das Q10 ist eine totale Absteige. Von wegen Drogen und so?«, frage ich überrascht.
Finn zuckt mit den Schultern. »Weiß nicht. Gestern jedenfalls war nicht viel los. Aber die Beachpartys sollen der Hammer sein. Viele Leute aus der Schule werden auch kommen.«
»Ach?! Ist das also schon fix, dass ihr dort hingeht?«, frage ich leise.
Finn sieht mich verblüfft an. »Willst du denn nicht mit?«
»Oh«, sage ich schnell. »Doch! Schon!« Ich soll also mit ins Q10. Na, meinetwegen. Obwohl ich viel lieber mit ihm alleine etwas unternehmen würde.
Und auf die Leute aus der Schule habe ich eigentlich auch keine Lust. Vor allem, weil ja niemand wissen soll, dass Finn und ich ein Paar sind. Aber ich will keine Spielverderberin sein. Deshalb sage ich nichts. Sondern lächle.
»Wir nehmen den Bus um neun«, erklärt Finn munter weiter. »Aber wenn du magst, dann können wir uns auch schon früher treffen. Also, nur wir
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