Funkensommer
mir wird es still. »Und was soll ich jetzt deiner Meinung nach tun?«
Mein Bruder sieht mich herausfordernd an. »Vergiss Finn«, antwortet er prompt.
»Was?«
»Triff dich nicht mehr mit ihm. Und ich …« Er überlegt. »Hast du Mama und Papa von … du weißt schon … den Tabletten erzählt?«
»Du meinst von den Drogen!«
Raphael rollt mit den Augen.
»Nein, habe ich nicht«, sage ich schließlich.
»Und die Sache mit dir und Finn?«
Ich schüttle den Kopf.
»Gut«, antwortet er. »Dann machen wir einen Deal. Ich verspreche dir, dass ich mit dem Zeug aufhöre. Und dass ich Mama und Papa nichts von deinem Lover erzählen werde. Du hältst ebenfalls die Klappe. Dafür muss das mit Finn …« Er sieht mich eindringlich an.
Mein Körper fängt zu zittern an. Heiße Tränen sammeln sich in meiner Kehle und drängen an die Oberfläche. »Du willst? Du willst?«, stottere ich herum. »Du willst, dass ich mit Finn Schluss mache?«
Raphael verdreht schon wieder die Augen. »Nun hör aber auf! Finn ist ohnehin nicht mehr lange hier. Ihr hättet euch nur noch ein paar Mal sehen können, bevor er …«
»Wie? Was meinst du?«
Raphael sieht mich prüfend an. »Sag bloß, er hat dir nichts davon erzählt.«
»Was erzählt?«, frage ich.
Mein Bruder fängt zu grinsen an. »Ha! Das nenne ich ja mal clever. Der Mistkerl hat dir nichts erzählt, damit er sich mit dir noch einen schönen Sommer machen kann. Nicht schlecht!«
»Was erzählt?«, dränge ich. »WAS?«
Raphael gibt sich einen Ruck. »Na, dass Finn im nächsten Halbjahr auf eine andere Schule gehen wird. In Großbritannien. Damit er sein Englisch aufbessern kann. Er soll nämlich eine ziemliche Niete darin sein …« Er grinst spöttisch.
Stille. Plötzlich. In meinem Körper. Kein Beben. Und kein Zittern mehr. »Er geht weg?«, flüstere ich.
Raphael grinst noch immer. »Schon bald.«
Eine einzelne Träne beginnt über mein Gesicht zu kullern. »Er hat mir gar nichts davon erzählt.«
Raphael wird ebenfalls still. »Tut mir leid.« Und der Hass in seinen Augen ist mit einem Mal verschwunden. »Es ist aber eh am besten so …«
Weiter kommt er nicht, denn in diesem Moment geht die Garagentür auf und Mama platzt ins Geschehen. »Raphael, da bist du ja endlich!«, ruft sie und stürmt auf meinen Bruder zu. »Alles in Ordnung?«
Rasch wische ich mir die Träne aus dem Gesicht.
Raphael sieht mich stechend an. »Und? Ist alles in Ordnung?«, will er wissen.
»Ja«, flüstere ich, während mein Herz zu Eis gefriert.
Regentropfen überall
Manchmal, so kommt es mir vor, spürt der Himmel meine Gefühle.
Wut. Zorn. Angst.
Liebe. Sehnsucht. Vertrauen.
Und so, wie ich mich fühle, gestaltet er sich dann. Er spannt sich über mir auf wie ein Schirm und reflektiert wie ein Spiegel, was hier unten geschieht.
Deshalb überrascht es mich kein bisschen, als es wenig später zu regnen anfängt. Zu regnen. Und zu regnen. Und ich weiß gar nicht mehr, wie lange es schon regnet. Sind es vier Tage? Oder fünf? Oder gar schon eine ganze Woche?
Ich weiß nur, dass meine Tränen, im Gegensatz zum Regen, irgendwann versiegt sind. Nicht, weil der Schmerz und die Wut in der Zwischenzeit nachgelassen hätten. Nein, das nicht. Es ist eher, weil mein Körper irgendwann seine letzte Träne vergossen hat. Weil er irgendwann keine weitere Träne mehr produzieren konnte. Weil er irgendwann einfach leer war. Jedenfalls fühlt es sich genau so an. Leer. In mir.
Der Himmel aber weint für mich weiter. Er lässt die Tage verrinnen wie die Regentropfen, die auf den Fensterscheiben zerplatzen und auf dem fliegenverschissenen Glas Richtung Erde laufen.
Tap, tap, tap, machen sie auf den Fensterscheiben meines Zimmers.
Mein Handy habe ich ausgeschaltet. Die Anrufe von Jelly sind nervtötend. Die von Finn wie ein Schlag in die Magengrube.
Warum? Diese Frage geistert seitdem in meinem Kopf herum und legt alles um mich herum lahm. Warum hat er mich so belogen? Warum hat er mir nicht gesagt, dass er weggehen wird? Warum hat er dieses Spiel mit mir gespielt? Warum! Diese Frage. Immer und immer wieder. Während ich im Zierpolsterberg versinke, umhüllt von den Himmelbettvorhängen, die im kühlen Augustwind flattern.
Irgendwie weiß ich nicht mehr, wer ich bin. Noch vor einigen Tagen hätte ich der Spiegelbild-Hannah sagen können: »Ich bin’s, Hannah, sechzehn Jahre alt. Mit einer mondänen Frisur. Und mit einem tollen Freund, der unglaublich süß ist. Und vor allem mich auch
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