Funkensommer
süß findet. Mit oder ohne Schweinehand. Einfach, weil wir uns alles sagen können!«
Nun aber stehe ich vor dem Spiegel und eine gänzlich andere Hannah blickt mir entgegen. Starre Augen hat sie. Und ein lebloses Gesicht. Diese Hannah macht mir Angst. So will ich nicht sein. »Reiß dich zusammen«, schreie ich sie an.
Die Spiegelbild-Hannah schreit stumm zurück.
»Leck mich!«, fauche ich, und drehe mich um, weil ich weiß, dass ich diesen Kampf nicht gewinnen kann. Ich muss hier raus. Schon zu lange hocke ich in meinem Zimmer herum. Hab mich verschanzt. Vor allem vor meinen Eltern. Und natürlich vor Raphael. Meinem Bruder. Dem es auf einmal richtig gut zu gehen scheint. Je schlechter es mir geht, desto besser geht es ihm.
»Schon eine ganze Woche ohne«, hat er mir gestern nach dem Mittagessen zugeraunt. Glücklich scheint er gewesen zu sein.
Ich nicht.
Denn: Schon eine ganze Woche ohne Treyes – bedeutet für mich: Schon eine ganze Woche ohne … Finn. Diesen Mistkerl!
Ja, ein Mistkerl ist er. Und trotzdem sehnt sich mein ganzer Körper nach ihm. Mein Herz zerspringt, wenn ich an ihn denke. Oh, wie ich das hasse. Wie ich ihn dafür hasse, dass er mich so leiden lässt. Wenn ich gewusst hätte, dass er nach England geht, dann …?
Tja, dann hätte ich mich trotzdem in ihn verliebt. Aber ich hätte gewusst, woran ich bin, und ihn niemals so nah an mich herangelassen.
Aber nun sitze ich hier. Mit gebrochenem Herzen. Ohne Finn. Ohne Jelly. Dafür mit der Bürde auf den Schultern, mein Leben zur Seite stellen zu müssen, damit das Leben meines Bruders wieder in die richtigen Gänge kommt.
Aber vielleicht trifft sich das ja ganz gut. So hat Raphael nicht wieder das Gefühl, ich würde ihm etwas wegnehmen. Und ich muss mich nicht mit Finns Lügen herumschlagen. So hat dieser Deal wenigstens für beide Seiten etwas parat. Oder?
Noch mal ein kurzer Blick in den Spiegel. Ja, eindeutig.
Ich muss raus. Weg hier.
Meine Hose ist nass. Meine Schuhe sind’s auch. Der Regen tropft mir ins Genick. Egal. Was soll’s!
Ich bin froh, dass es regnet. Ansonsten wäre ich bestimmt vom Jungfrauenfelsen gesprungen. Hinein in das tiefe schwarze Loch. Aber so ist es besser. Wenn man nicht gut drauf ist, sollte man lieber nicht von diesem Felsen springen.
Der See ist außerdem heute in ein trübes Licht getaucht. Nebelschwaden tanzen über die Wasseroberfläche, während es darunter geheimnisvoll brodelt. Unter der Birke bin ich wenigstens ein bisschen vor dem Regen geschützt. Müde lehne ich mich an ihren Stamm und spüre augenblicklich die Nässe, die meinen Pulli durchtränkt.
Was für ein Sommer! Zuerst Hitze. Jetzt Dauerregen. Ein Funkensommer. Verloschen.
Von der Ferne her ist Donnergrollen zu vernehmen. Das Geräusch rollt langsam über das Wasser. Hin zum Ufer. Auf mich zu. Bis unter die Birke. Da, wo ich auch an jenem Abend mit Finn gesessen habe, als es ebenfalls gedonnert hat. Als ich daran denke, donnert es auch in mir.
»Reiß dich zusammen«, schimpfe ich mit mir und verbiete mir, daran zu denken. Bevor sich meine Augen wieder mit Tränen füllen können, atme ich tief ein. Meine Lungen tanken frische Luft. Ich schließe die Augen und kann jetzt die besondere Magie dieses Platzes spüren. Ich lasse sie fließen. Atme ein. Und atme aus. Und weiß dann schlagartig, was ich zu tun habe, um wieder die richtige, echte Hannah zu werden. Zumindest ein bisschen. Zumindest kann ich es versuchen.
»Los«, rufe ich und lasse Lanzelot laufen, auch wenn es immer noch in Strömen regnet. Aber das ist mir egal. Wir preschen über den aufgeweichten Waldboden.
Da-damm, Da-damm, Da-damm … Lanzelot kennt den Weg. Ich kann mich auf ihn verlassen. Immerhin ist das unsere Lieblingsreitstrecke. Und auch wenn es dieses Mal etwas länger dauert als sonst, stellt sich das Gefühl von Freiheit dann doch noch ein.
Im Wald ist es still. Der Regen tropft auf sein Blätterdach. Ab und zu knackst es im Unterholz. Ein Reh. Vielleicht ein Hase. Oder gar ein Fuchs quert wohl gerade unseren Weg. Sonst niemand. Bin ich froh darüber!
Lanzelot schnaubt zufrieden. Zu lange musste er in der letzten Zeit auf unsere Ausritte verzichten. Entweder hatte ich keine Zeit. Oder es war zu heiß. Oder ich war bei …
STOPP, ruft mein Hirn. NICHT DARAN DENKEN! NICHT WEITERDENKEN! Deshalb treibe ich Lanzelot an, als wir an der alten Eiche vorbeireiten. Scharf klatscht der kalte Regen in mein Gesicht und nimmt mir für kurze Zeit die
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