Funkstille
über die Abhängigkeiten zu stark, kann Abbruch die Folge sein«, so Wedler.
Ich frage nach: Was ist das für ein Leben, das aus stehengelassenen Menschen und zugeschlagenen Türen besteht? »Es ist eine Alltagserfahrung, dass andere einen einfach stehen lassen, dass Türen einem vor der Nase zugeschlagen werden. Es ist dann eine Lebensaufgabe, neue Türen zu öffnen, in andere Richtungen weiterzugehen, eventuell auch, Stehengebliebenes wieder in Bewegung zu setzen«, erklärt Hans Wedler. Claudia hat eine neue Tür geöffnet und ist durch sie hindurchgegangen, aber sie hat diese Tür fest hinter sich verschlossen. Nur aus Wut und Verzweiflung oder auch, weil sie selbst noch nicht wusste, was oder wer nun aus ihr werden würde? »Angst tritt immer da auf, wo wir uns in einer Situation befinden, der wir nicht oder noch nicht gewachsen sind«, schreibt Fritz Riemann in seinem erhellenden Standardwerk Grundformen der Angst . Dieses Buch hatte mir der ZDF -Redakteur und von mir geschätzte Ratgeber Meinolf Fritzen empfohlen und dazu bemerkt: »Ich habe das Buch als Schüler gelesen und war entsetzt, dass alles, was drin stand, auf mich zutraf.« Ich nahm das Buch also zur Hand – und fand seinen Tipp überaus hilfreich. Denn geht es bei der Funkstille nicht oft um Angst? Sind Claudias Flucht in ein neues Leben und ihr Schweigen nicht stark von der Angst motiviert, der bisherigen Situation nicht mehr und dem neuen Leben noch nicht gewachsen zu sein? Angst kennt jeder von uns. Sie gehört zu unserem Dasein. Doch für jeden Menschen ist Angst etwas anderes. »Die« Angst gibt es so wenig wie »die« Liebe, schreibt Riemann. Jeder Mensch habe seine persönliche und individuelle Form der Angst. »Unsere Angst hängt mit unseren individuellen Lebensbedingungen, mit unseren Anlagen und unserer Umwelt zusammen; sie hat eine Entwicklungsgeschichte, die praktisch mit unserer Geburt beginnt«, so Riemann. Dass Angst sich auch von einer Generation auf die nächste vererben kann, werden wir in einem späteren Kapitel noch sehen.
Betrachtet man das Phänomen der Funkstille genauer, so fällt auf, dass es offenbar nur Extreme gibt: Man ist sich zu nah oder zu fern, es gibt nur Liebe oder nur Hass, es geht um »Leben oder Tod«, wie Jan es beschreibt. Speziell in den Schilderungen der Abbrecher gibt es keine Nuancen, keine Zwischentöne. Riemann bemüht nicht weniger als das Sonnensystem, um dieses Fehlen von Ausgewogenheit zu beschreiben. Er erinnert daran, dass wir uns um die Sonne drehen, die Sonne sich aber auch um die eigene Achse dreht, erinnert an Schwerkraft und die Fliehkraft. Die Schwerkraft hält unsere Welt zusammen, hat also einen Sog, der festhält und anzieht. Die Fliehkraft geht nach außen, drängt in die Weite und hat etwas Loslassendes, Ablösendes. Die Ausgewogenheit dieser Impulse sei wichtig für die Ordnung, die wir Kosmos nennen. Nimmt einer der beiden Impulse überhand oder fällt umgekehrt komplett aus, wird die Ordnung zerstört. Der Schwerkraft entspricht unser Impuls nach Beständigkeit und Zusammenhang, der Fliehkraft das Streben nach Veränderung. Wir brauchen beides in einem ausgewogenen Verhältnis, um uns in der Welt zurechtzufinden. Bei der Funkstille ist das Verhältnis der beiden Impulse massiv gestört, und zwar nicht nur zwischen Abbrecher und Verlassenem, sondern vor allem auch im Inneren des jeweilig Betroffenen.
Die Angst hat laut Riemann etwas mit dem Wunsch nach Individualisierung zu tun. Denn je mehr wir »wir selbst« werden, uns von anderen unterscheiden, umso einsamer werden wir. Claudia, so haben wir bereits gemutmaßt, wollte nicht länger das Opfer von Schicksalsschlägen, sondern Herrin ihres eigenen Lebens sein. Ein einsamer Entschluss und einer, der Angst erzeugen kann. Aber wie lässt sich das Dilemma auflösen, dass selbstbestimmte Individualität uns auch Angst machen kann? Sollte man aus Angst vermeiden, einen eigenen Weg zu gehen? Riemann rät davon ab, denn dann würden wir zu sehr im Kollektiven stecken bleiben, uns zu wenig entwickeln und unserer menschlichen Würde etwas Entscheidendes schuldig bleiben. Entscheidend scheint zu sein, dass wir lernen, mit Abhängigkeiten umzugehen. Natürlich sei mit dem Sich-Öffnen für andere wiederum die Angst verbunden, sein »Ich« zu verlieren, so Riemann, und tatsächlich findet dieses andere Dilemma sich zuweilen in den Äußerungen der Abbrecher. »Ich oder sie«, sagt etwa Jan, wenn er vom Verhältnis zu seiner Mutter
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