Funkstille
Erinnerungen wieder hochkommen, unerträgliche Gefühle wieder aufbrechen könnten? Der Fachmann Hans Wedler gibt zu bedenken: »Sollte der Kommunikationsabbruch tatsächlich ein Totstellreflex sein, wird die Unterbrechung der Kommunikation nicht von Dauer sein. Denn man kann sich nicht auf Dauer totstellen. Auch das Einfrieren der Gefühle erfordert langfristig meist zu viel Energie, wird deshalb irgendwann aufgegeben oder mündet letztlich in psychopathologische Entgleisungen.«
Seit 17 Jahren fragt sich Ute nach dem Grund für den Kontaktabbruch ihrer Schwester. Aus ihren Erzählungen weiß ich, dass nach dem Krebstod von Claudias neunjähriger Tochter auch ihre Ehe scheiterte. Wollte sie sich vor einem neuen Verlust schützen, als sie ein weiteres Kind von ihrem Mann abtrieb und die Tür zu ihrem bisherigen Leben endgültig schloss? Hat Claudia eine andere Existenz angenommen, weil sie ihre bisherige nicht mehr ertragen konnte? Auf den Fotos in Utes Wohnung blickt uns eine schöne Frau eigenwillig an. Stark wirkt Claudia auf diesen Bildern – aber wie war es um ihre Lebenskraft bestellt, nachdem sie erst ihr Kind und dann auch den Ehemann verloren hatte? War ihr Umzug in eine andere Stadt eine Art Überlebensreflex, der Versuch, alles zu vergessen und neu anzufangen? Bot die Funkstille – die vielleicht anfangs gar nicht geplant war – ihr eine Möglichkeit, nicht länger das Opfer von Schicksalsschlägen zu sein, sondern in ihrem Leben wieder die Regie zu übernehmen? Aber kann man den Kontakt zur Familie abbrechen, ohne dabei selbst Schaden zu nehmen? »Nein«, erklärt Udo Rauchfleisch, »das wird einem schon selber Wunden zufügen, denn die Familie, das sind verinnerlichte Bilder, das sind die Nahestehenden. Es kann aber auch ein heilsamer Prozess sein, sich einzugestehen: Meine Erwartungen an die Familie können von ihr nicht erfüllt werden. Nicht, weil sie das nicht wollte, sondern weil sie es nicht kann. Die anderen sind in ihren eigenen Problemen gefangen, und insofern distanziere ich mich lieber, anstatt immer wieder von ihnen enttäuscht zu werden.«
Ute bewunderte die große Schwester für ihre Coolness und »ihren eigenen Kopf«, doch Claudia muss innerlich gebrannt haben. »Aber warum habe ich nichts gemerkt?«, fragt Ute. »Warum habe ich nicht geahnt, wie groß der Schmerz meiner Schwester war? Wollte ich nicht hinsehen? War ich zu sehr mit meinem eigenen Leben beschäftigt?« Selbstkritische Fragen, auf die sie ehrlich Antworten sucht. »Ich habe Claudia nicht gefragt, wie es ihr geht, wir haben nicht viel über Gefühle gesprochen. Ich habe sie eher eingeladen, Zeit mit uns zu verbringen, und wir unternahmen doch auch viel gemeinsam.« Ute zuckt hilflos die Schultern. Ist es ihr niemals in den Sinn gekommen, dass ihre Schwester das Zusammensein mit der »heilen Familie« vielleicht nicht ertrug? »Wir sprachen nicht über unsere Empfindungen und Zweifel. Wir haben das einfach nicht gelernt. Das ging nicht in unserer Familie«, verteidigt sich Ute, die mit ihrer Tochter Annika und auch mit uns Journalisten sehr offen über ihre Befindlichkeit sprechen kann. Vielleicht ist Überforderung der Grund für ihre vermeintliche Teilnahmslosigkeit der Schwester gegenüber: Ute wusste nicht, wie sie Claudia hätte helfen können. Claudias Schmerz konnte sie wohl nicht ermessen.
Und umgekehrt? Weiß Claudia, was sie ihrer Familie durch ihr Schweigen antut? »Das weiß man doch nie, was man tut. Wir tun dem anderen immer etwas an. Selbst wenn ich in bester Absicht jemandem einen Kuss gebe, weiß ich doch nicht, was das für den anderen bedeutet«, so Professor Martin Teising. Die Funkstille scheint auch eine Art Kapitulation zu sein, vor dem anderen und ein wenig auch vor sich selbst. Sie ist Zeichen einer Schwäche, und natürlich kann ein andauerndes Gefühl von Unterlegenheit auch aggressiv und wütend machen. Taugt die Funkstille dazu, zu vergessen und neu anzufangen? Kann man sein Leben wie eine Glühbirne aus der Fassung schrauben und an anderer Stelle neu einsetzen? Darüber möchte ich mit einem Fachmann sprechen. Persönlich glaube ich, dass die Lebensphasen miteinander verbunden sein müssen, damit man glücklich, zumindest aber mit sich eins sein kann. Wie soll das gehen, wenn das Leben nur aus unverbundenen Bruchstücken besteht? »Jeder Mensch lebt stets in einem Spannungsfeld zwischen dem Streben nach Autonomie einerseits und Geborgenheit andererseits. Wird in dieser Dialektik die Wut
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