Funkstille
mit 18. Die Tür stand offen, er hätte gehen können, wie seine Mutter immer wieder betont.
Vielleicht hat er zuvor andere Wege ausprobiert, auf Distanz zu gehen, mutmaßlich mit geringem Erfolg. Lisa-Maria W., so mein Eindruck, ist knallhart und weiß, wie sie ihren Willen durchsetzt. Es ist schwer, gegen sie anzukommen. Irgendwann wollte Michael der mütterlichen Dominanz nicht mehr passiv ausgesetzt sein. Er erkannte, dass sein Schweigen die Mutter am härtesten treffen würde – und verstummte. Jetzt war endlich seine Mutter das Opfer, ohnmächtig und passiv. Michael hatte über all die Jahre die Auseinandersetzung gescheut: aus Unfähigkeit wohl, sich gegenüber der so bestimmenden Mutter klar zu artikulieren; aus Angst, den Kürzeren zu ziehen, also letztlich aus Schwäche. Die Rollen waren klar verteilt. Wie aber steigt man aus solch einer Konstellation aus? Die naheliegendste Vorgehensweise: indem man sich erklärt, der Mutter mit Worten verdeutlicht, was sie nicht wahrzunehmen scheint; wie es einen verletzt, dass man sich von ihr nicht anerkannt fühlt. Vielleicht glaubte Michael zu wissen, wie das ausgehen würde: Nur allzu schnell wäre man wieder in die gewohnten Rollen hineingerutscht. Die Mutter würde mit ihrer Dominanz alles überlagern, was er ihr zu sagen versuchte. Mit Worten würde es nicht gehen. Der einzige Ausweg: Kontaktabbruch, Schweigen.
Ob es tatsächlich so gekommen wäre, wie Michael es sich ausgemalt haben mag, weiß niemand. Michael hat der Mutter die Erklärung für sein Schweigen ja nicht gegeben. »Sich erklären bedeutet ja auch, dass man dem anderen etwas schenkt. Man schenkt ihm eine Erklärung«, so Professor Martin Teising. Hat Michael vielleicht nie gelernt, sich zu erklären, weil Lisa-Maria W. darauf keinen Wert legte? Es galt, was sie sagte. Punkt. Michaels Geschwister haben offenbar die für sie passende Form gefunden, mit der Mutter umzugehen. Die 45-jährige Tochter hat sich angepasst und der 48-jährige Sohn Christian rebelliert nach wie vor – alle scheinen ein wenig auf der Stelle zu treten, sich im Zusammenleben mit der Mutter nicht weiterentwickeln zu können. Auch Michael wirkte am Telefon eher wie ein störrisches Kind und nicht wie ein erwachsener Mann, der weiß, was er will und warum er tut, was er tut. Wie es scheint, will er seine Mutter dafür bestrafen, dass sie seinen Wert, das Recht, in der Welt so zu sein, wie er ist, in seiner Kindheit nicht anerkannt hat. Sein Schweigen soll ihr sagen: »Ich bin wertvoll, ich bedeute etwas. Du hättest mich nicht kränken dürfen. Und das bringe ich dir jetzt bei.« Michael glaubt sich im Recht. Schließlich hat seine Mutter angefangen. Ein unreifes Verhalten, findet seine 18-jährige Nichte. Seit dem Kontaktabbruch vor 16 Jahren ist Michael keinen Schritt weiter.
Seine Mutter hingegen räumt inzwischen ein, ihm keine allzu liebevolle Mutter gewesen zu sein. Sie weiß, dass dieses Versäumnis nicht wieder gutzumachen ist, aber heute würde sie ihrem Sohn das geben, wozu sie in der Lage sei. Sie nennt es Liebe. Michael aber ist nach fast zwei Jahrzehnten emotional nicht mehr erreichbar, eigentlich für niemanden. Kaum jemand wagt zu glauben, dass er wieder fassbarer wird. Er hat keinen festen Wohnsitz, keine Freundin, auch keine Freunde. Sein Leben ist ein Provisorium. Er bestraft seine Mutter, aber auch sich selbst.
Anders als bei Michael und seiner Mutter gab es bei Jan und Isabella M. vor der Funkstille Auseinandersetzungen, Streit, einen offen ausgetragenen Konflikt. In Jan wuchs die Überzeugung, sich von seiner Mutter befreien zu müssen. Als die Mutter ihm während des Studiums nahelegte, sich eine eigene Wohnung zu suchen, war Jan tief verletzt. Warum will seine Mutter ihn loswerden, wenn sie ihn doch liebt? Seine widersprüchlichen Gefühle drohten ihn zu zerreißen: Er spürt die Notwendigkeit der Trennung, schafft es aber noch nicht, sie umzusetzen; eine innere Ambivalenz, die ihn aggressiv macht. Die Wut auf die Mutter wird immer größer. »Ich hätte sie umbringen können«, sagt Jan noch heute, auch wenn er weiß, dass diese Aussage völlig überzogen ist.
»Die Funkstille ist aggressiv und gleichzeitig ärmlich«, so die Psychotherapeutin und Verlegerin Trin Haland-Wirth aus Gießen. »Das Ärmliche ist, dass er es nicht sagen kann. Es ist eine Schwäche, und es ist große Not dabei. Wenn jemand es nötig hat, so etwas zu machen, dann muss er in einer unheimlichen Not sein, nämlich in der Not, es
Weitere Kostenlose Bücher