Funkstille
Eindeutigkeit brutalen Situation beim Wiedersehen mit ihrer Schwester in Berlin keinen Schlussstrich ziehen. Sie schreibt Claudia einen Brief, in dem sie ihr erklärt, wie weh es tut, dass die eigene Schwester, sie anblickend, sich verleugnet, sie stehen lässt, geht, ohne ein Wort der Erklärung. Annika ist zwar skeptisch, dass dieser Brief irgendeine Reaktion bewirken wird, aber sie versteht ihre Mutter und bestärkt sie darin, immer wieder nachzufragen: »Es würde meiner Mutter vielleicht nicht besser gehen, wenn sie wüsste, was es wäre, aber in allen zwischenmenschlichen Beziehungen ist es immer besser zu wissen, auch wenn es verletzend ist, auf welchem Stand man ist.« Doch Claudia schweigt.
Lisa-Maria W. glaubt nach zwei Jahrzehnten Funkstille erkannt zu haben: Ihr Sohn will tatsächlich absolut keinen Kontakt. Niemals habe sie in all den Jahren einen Überraschungsbesuch gestartet, versichert sie. In den langen Jahren der Funkstille hat sie für sich einen Weg gefunden, mit dem Kontaktabbruch ihres Sohnes zu leben. Für sie bedeutet sein Schweigen: Lass’ mich in Frieden! Aber die Antwort auf die Frage nach dem »Warum« bleibt er ihr schuldig. Und wenn Michael sein Schweigen plötzlich bräche? »Dann würde ich hinhören! Dankbar für jedes Wort. Aber verzeihen? Ich weiß nicht, ob ich das könnte. Er hat uns um wertvolle gemeinsame Lebenszeit gebracht«, so die 73-Jährige. In ihrer Vorstellung gibt es aber eine Begegnung nach dem Tod: »Können Sie sich vorstellen, dass, wenn jemand tot ist, beide wieder ein anderes Verhältnis zueinander kriegen, der Lebende mit dem Toten? So könnte ich mir denken, dass der Tod nachher viele Brücken baut. Sie wissen auch nicht, ob er nicht heimlich nachts an mein Grab kommt und weint. Das wissen wir nicht. Das tröstet mich als Lebende in keiner Weise, aber ich denke, so wird das sein.« Der Tod als Brücke?
Eine erschreckende Perspektive, finde ich. Unsere Kamerafrau, ihre Assistentin und ich sind wieder einmal gemeinsam im Kleinbus unterwegs. Gelegenheit, das Thema ausführlich zu diskutieren. Ist es nicht so, dass man im Leben manchmal Dinge aussprechen muss, um selbst zu wissen, was man fühlt und denkt? Lassen die nie besprochenen Verletzungen zwischen Menschen den Schmerz nicht noch wachsen? Und gibt es – bei allem Risiko des Missverstehens – nicht immer wieder auch Augenblicke des Verstehens? »Wir müssten sprechen, um zu erforschen, warum und wozu wir an der falschen Stelle schweigen«, meint Wilfried Wieck. Schweigen schafft Distanz. Zu sich selbst auf Distanz zu gehen ist schwierig, also trifft es den anderen. Schweigen schafft auch eine Hierarchie. Wer schweigt, hat die Macht – so zumindest wirkt es äußerlich. Dass das, bezogen auf das Innenleben einer Beziehung, so nicht stimmen muss, zeigen die Aussagen der Abbrecher in diesem Buch. Sie deuten auf etwas hin, das auch Wilfried Wieck wichtig ist: Offen miteinander sprechen können nur gleichberechtigte, ähnlich starke Menschen. Bei der Funkstille geht es also auch um das, was einer gleichberechtigten Beziehung im Wege steht. Überwältigende oder übergriffige Liebe, verletzende Kälte, kränkende Verachtung, enttäuschte Erwartung – die Auslöser für einen plötzlichen Kontaktabbruch können vielfältig sein. Welche »Knoten« in Beziehungen sind es, die den Kontaktabbruch begründen?
Viertes Kapitel
Die Motive
»Warum?« ist stets das erste Wort, das im Zusammenhang mit der Funkstille fällt. Welche Gründe gibt es, auf diese Art zu gehen? Was ist es, das den bis dahin nahestehenden Menschen wegtreibt? Und warum kann er es nicht erklären? Es war der Psychologe und Psychotherapeut Klaus Grawe, der die Grundbedürfnisse des Menschen formulierte. Diesen Grundbedürfnissen, soviel verstehe ich nach den zahlreichen Gesprächen mit Betroffenen, folgt der Verlassene wie auch der Abbrecher.
Grawe, dessen Schwerpunkt die Neuropsychotherapie war, fand vier menschliche Grundbedürfnisse, die erfüllt sein müssen, damit ein Mensch psychisch gesund sein kann: Das wichtigste ist das nach Bindung; weiterhin gibt es das Bedürfnis nach Orientierung und Kontrolle, nach Lustgewinn und Unlustvermeidung und schließlich das nach Selbstwerterhöhung und Selbstschutz. Diese Grundbedürfnisse prägen Erleben und Verhalten des Menschen. Wächst ein Mensch in einer Umgebung auf, in der sie immer wieder missachtet werden, wird er Verhaltensweisen entwickeln, die weitere Verletzungen vermeiden helfen. Wenn
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