Funkstille
spricht.
Mit unseren Abhängigkeiten von anderen Menschen müssen wir umgehen lernen, wenn wir dem Leben zugewandt sein wollen. »Riskieren wir das nicht, bleiben wir isolierte Einzelwesen ohne Bindung, ohne Zugehörigkeit zu etwas über uns Hinausreichendem, letztlich ohne Geborgenheit, und werden so weder uns selbst noch die Welt kennenlernen.« Der Psychoanalytiker Riemann nennt diesen Konflikt die »Zumutung« unseres Lebens. »Wir müssen zugleich die Angst vor der Ich-Aufgabe wie die Angst vor der Ich-Werdung überwinden.«
Beim Nachdenken über diese paradoxe Aufgabe fällt mir Michael ein, der Sohn von Lisa-Maria W. Er flüchtet von einem Land ins andere, von einer Beziehung in die nächste und braucht doch, glaubt man seiner Schwester, Geborgenheit. Sein Leben scheint wie ein einziger Durchgang. Neues wagen und gleichzeitig etwas von Dauer schaffen – das scheint für manchen unmöglich.
Die Grundformen der Angst sind nach Riemann:
•die Angst vor der Selbsthingabe, als Ich-Verlust und Abhängigkeit erlebt,
•die Angst vor der Selbstwerdung, als Ungeborgenheit und Isolierung erlebt,
•die Angst vor der Wandlung, als Vergänglichkeit und Unsicherheit erlebt,
•die Angst vor der Notwendigkeit, als Endgültigkeit und Unfreiheit erlebt.
Das erinnert mich in vielem an die Grundbedürfnisse nach Grawe. Hat nicht die Angst vor einem Ich-Verlust mit dem Bedürfnis nach Selbstschutz zu tun, die Angst vor Isolierung mit dem Bindungsbedürfnis, die Angst vor Unsicherheit mit dem Bedürfnis nach Kontrolle und die Angst vor Unfreiheit schließlich mit dem Bedürfnis nach Lustgewinn? Wieder empfinde ich es als hilfreich, mit den Erkenntnissen Grawes und Riemanns eine Art Maßstab zu haben, nach dem sich die auf den ersten Blick so befremdenden Geschichten des Kontaktabbruchs besser verstehen lassen. Mehr noch: Die Protagonisten der Geschichten sind mir nun ein ganzes Stück näher. Denn wir alle haben sicherlich auf unterschiedliche Weise schon Bekanntschaft mit diesen Bedürfnissen und Ängsten gemacht. Wie wir damit umgehen, hat wohl unter anderem etwas mit dem Rüstzeug zu tun, das uns unsere Eltern und deren Eltern mit auf den Weg gegeben haben – eine Vermutung, die sich erhärtet, wenn wir später die Biografien unserer Protagonisten genauer betrachten.
Folgen wir Riemann bei seiner Argumentation weiter, sehen wir, dass Angst immer zwei Seiten hat: »Einerseits kann sie uns aktiv machen, andererseits kann sie uns lähmen. Angst ist immer ein Signal und eine Warnung bei Gefahren, und sie enthält gleichzeitig einen Aufforderungscharakter, nämlich den Impuls, sie zu überwinden. Das Annehmen und das Meistern der Angst bedeutet einen Entwicklungsschritt, lässt uns ein Stück reifen. Das Ausweichen vor ihr und vor der Auseinandersetzung mit ihr lässt uns dagegen stagnieren, es hemmt unsere Weiterentwicklung und lässt uns dort kindlich bleiben, wo wir die Angstschranke nicht überwinden.« Tatsächlich ist auffällig, dass mit der Funkstille die Weiterentwicklung des Abbrechers und auch die des Verlassenen gravierend beeinträchtigt, wenn nicht sogar blockiert wird. Bei den Verlassenen liegt das wohl daran, dass sie mit der Situation nicht abschließen, sie nicht verarbeiten können. Und die Abbrecher sind zu der Zeit, zu der sie sich zurückziehen, erst einmal am Ende ihrer Kräfte.
»Ich musste mich erst einmal zurückziehen, um mich zu schützen. Die ständigen Attacken und Forderungen meiner Mutter machten mich fertig. Ich war schlicht erschöpft«, fasst etwa Maja ihre Befindlichkeit nach den immer gleichen Auseinandersetzungen mit ihrer Mutter zusammen. In einem Schutzraum aus Schweigen wollte sie zur Ruhe kommen. »Der Abbrecher braucht Zeit, um sich zu sortieren. Er braucht einen Schonraum, einen Rückzugsraum. Und das Schwierige daran ist, dass er das dem anderen eben nicht mitteilen kann, gerade weil er ja nun diesen Schutzraum braucht. Das ist das Fatale an dieser Situation«, erklärt der Therapeut und Arzt Robert Stracke. Problematisch ist aber auch, dass die Abbrecher sich nur sicher fühlen können, indem sie unerreichbar sind, gewissermaßen eine Tarnkappe überziehen. Kann man auf Dauer so leben?
Das Schweigen des Abbrechers ist kein gelassenes Sich-Ausruhen. Sicher, es sorgt erst einmal für Ruhe, aber zeugt es nicht auch deutlich von seiner Hilflosigkeit und Unsicherheit?
Maja war nicht mehr in der Lage, sich von ihrer Mutter abzugrenzen. Nach jedem Telefonat mit ihr fühlte sie
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