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Funkstille

Funkstille

Titel: Funkstille Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klett-Cotta Verlag
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man über das Phänomen Funkstille spricht, tauchen immer wieder dieselben Vokabeln auf: Schutz, Flucht, Angst, Verzweiflung, Strafe, Manipulation, Kränkung, Scham. Vielleicht passen diese Begriffe sogar zu den Grundbedürfnissen, überlege ich. Sind Flucht und Selbstwertschutz, Strafe und Kontrolle, Verzweiflung und Abhängigkeit nicht in gewisser Weise miteinander verbunden?
    Immer wieder habe ich in den Gesprächen mit Abbrechern und Verlassenen, aber auch mit Psychotherapeuten, Psychiatern und Psychoanalytikern herauszufinden versucht, ob der jeweilige Kontaktabbruch aus Schwäche, Angst oder dem Wunsch nach Orientierung bewusst oder ungewollt passiert ist oder schlicht aus dem Gedanken heraus: »Ich weiß mir nicht anders zu helfen, als den Kontakt abzubrechen.« Oder gibt es gar keine logische Erklärung für die Funkstille, weil der Abbrecher nicht überlegt und logisch handelt oder vielleicht mit sich selbst nicht im Reinen ist?
    Es wäre vermessen anzunehmen, dass jeder Fall von Kontaktabbruch sich mithilfe der oben genannten Begriffe lückenlos einordnen und aufklären ließe. Aber sie haben mir bei der Recherche doch immer wieder geholfen, die jeweilige Situation besser zu verstehen. Den bisher geschilderten Kontaktabbrüchen soll daher im Folgenden entlang dieser Begriffe weiter nachgegangen werden. Dass dabei mal die eine oder die andere Geschichte im Vordergrund steht, besagt nicht, dass sie ausschließlich unter der Maßgabe des jeweiligen Begriffs zu verstehen wäre. Zu eng sind die menschlichen Grundbedürfnisse mit dem, was als Verhalten aus ihnen entsteht, verknüpft, als dass eine so eindimensionale Erklärung möglich wäre.
    »Lass mich in Ruhe!« Die Funkstille als Schutzraum
    Rückblende: Zu Beginn meiner Recherche für die NDR -Dokumentation führte mich das erste Gespräch in eine psychosomatische Kurklinik. Ein Blick durch das große Fenster des Kurcafés: Dort sitzt, mutterseelenallein, eine Frau mittleren Alters mit einer strubbeligen Kurzhaarfrisur. Sie ist die Einzige in diesem Café. Es ist Ute. Sehr klein und in sich versunken sitzt sie da. Die weißblonden Haare stehen rebellischer, als sie selbst es wohl je sein könnte, zu Berge, dezente Schminke, Jeans, eine Wolljacke in Pink und dazu ein Schal, auch in Pink, allerdings der etwas grelleren Variante. Sie sitzt in gebeugter Haltung an einem der Tische und trinkt Tee. Warum sie hier, in der Klinik sei, frage ich. Sie schaut mich noch nicht direkt an.
    Sie brauche Erholung, Abstand, müsse zu sich selbst kommen, das hatte sie am Telefon bereits angedeutet, und natürlich ging es um die Funkstille, aber wir gingen damals noch nicht in die Tiefe, wollten uns lieber in einem persönlichen Gespräch austauschen. Hätte Ute am Telefon begonnen zu sprechen, wäre der Damm gebrochen und sie hätte nicht mehr aufhören können. Nun aber, an diesem trostlosen Nachmittag an der Ostsee, erzählt sie mir schließlich zum ersten Mal die traurige Geschichte ihrer Schwester Claudia, die zum Teil ja auch die ihre ist. Den äußeren Rahmen kennen wir schon. Wir wollen jetzt Utes und Claudias Geschichte von innen zu beleuchten versuchen. »Warum tut sie das?«, fragt Ute damals wie heute immer wieder und immer im Präsens, als ob es die vergangenen 17 Jahre nicht gäbe. Ihre Trauer über den Verlust der Schwester hat Ute in die zäh aufrechterhaltene Hoffnung gegossen, dass sie und Claudia irgendwann wieder Kontakt haben werden, einen guten sogar. Manchmal träumt sie davon, später einmal mit ihrer Schwester zusammenzuleben. Lange Zeit legte sie sich entschuldigende Theorien für die Schwester zurecht, mutmaßte, dass Claudia in eine Sekte geraten oder krank sei und sich gar nicht melden könne. Sie kann es einfach nicht akzeptieren: Claudia ist weg. Bisher sind mir solche Gedanken vor allem bei Menschen begegnet, die erst vor Kurzem verlassen wurden. Aber Claudia ist seit 17 Jahren verschwunden! Welches Grundbedürfnis wurde bei ihr verletzt? Wenn wir später ihre Biografie genauer betrachten, wird sich die Vermutung aufdrängen, dass sie sich am Ende schützen musste, um zu überleben. Sie musste fliehen, um sich nicht zu verlieren.
    Gerne würde ich mit Claudia reden, aber alle Kontaktversuche, ob von Ute, ihrer Tochter Annika, der Mutter, dem Ex-Mann oder Freunden liefen und laufen ins Leere. Warum ist das so? Warum rührt sie sich nicht und lässt sich auch durch die Appelle ihrer Familie nicht berühren? Fürchtet sie, dass schmerzhafte

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