Funkstille
Großeltern hatten Vicky eine Liebe und Zuneigung zuteil werden lassen, die sie bei ihren Eltern nicht wiederfinden sollte. Sie spürte, was sie vermisste, weil sie es einmal erlebt hatte.
Vicky glaubt, dass diese Erfahrung ihr späteres Verhalten in Beziehungen beeinflusst hat. Immer wieder suchte sie die bedingungslose Liebe, die sie von ihren Großeltern erfahren hatte. Sie neigt zum Klammern, verstellt sich, ist nicht sie selbst und hat Erwartungen, die das Leben immer wieder umwirft. Sie traf mehrheitlich auf Männer, die sie nicht gut behandelten, und ihr griechischer Freund Kyrill war der Endpunkt dieser Kette von Enttäuschungen. Sein Kontaktabbruch ließ in ihr den Entschluss reifen, dass es so nicht weitergehen sollte. Mit ihm nahm sie Abschied von ihren überhöhten Erwartungen an eine Beziehung. Inzwischen lebe sie im Jetzt, betont Vicky immer wieder und wirkt dabei glaubwürdig. Sie nimmt, was sie bekommt, weiß Nähe zu schätzen, erzwingt sie aber nicht mehr. Vicky hat aus den Scherben eine eigene, neue Welt gebaut.
»Ich habe bisher nie um Nähe gebettelt. Eigentlich war mir nach einer Weile immer alles zu viel – Zukunftspläne, Familienfeiern, Ansprüchen genügen müssen, das war alles nicht mein Ding. Wenn es mir zu viel wurde, ging ich. Ich bin eben Einzelkind und die Bedürfnisse meiner Eltern richteten sich nach mir aus«, erzählt der Kollege, Stephan, dessen Freundin ihn von einem Tag auf den anderen verlassen hat. Ein halbes Jahr ist seit unserem letzten Gespräch vergangen, und er wirkt gelassener, vielleicht auch nur nachdenklicher, fast ein wenig fatalistisch. Wir treffen uns in einem Café in Wiesbaden. Müde sieht er aus, und die Cordhose schlackert um seine Beine. Er hat abgenommen und wirkt nicht mehr so aus dem Ei gepellt wie zuvor. Stephan ist nicht mehr der lustige Kollege, der immer eine Spur zu gut gelaunt wirkte. Viele fragten sich, was wohl hinter dieser »Ich nehme das Leben, wie es kommt«-Fassade stecken mochte. Mehr als einmal hatte Stephan behauptet: »Ich schaue immer nur nach vorn, die Vergangenheit lasse ich hinter mir. Es würde mich blockieren, wenn ich immer zurückschauen würde.« Inzwischen sagt er das nicht mehr. Er bestellt sich ein Bier. Auch das ist neu. Er trinkt eigentlich fast nichts, gelegentlich mal ein Glas Wein, und das nicht einmal gerne. Er brauche keinen Alkohol, sei von Natur aus gut drauf, bekam man früher von ihm immer wieder zu hören.
Stephan erklärt gleich zu Beginn unseres Gesprächs, dass er ganz und gar nicht über die Trennung hinweg sei. Im Gegenteil, er zermartere sich immer noch den Kopf darüber, womit er seine Freundin Marie in die Flucht getrieben haben könnte. Es war das erste Mal, dass eine Frau ihn verließ. An Beziehungen zu arbeiten war bisher nicht seine Sache, und ich kann ihm die Frage nicht ersparen, ob verletzter Stolz nicht vielleicht der Hauptgrund dafür sei, dass er sich so getroffen fühle. Sicher, gibt Stephan unumwunden zu, er sei schließlich immer der Liebling, der Strahlemann, der tolle Sohn und Lieblingsenkel gewesen, der Star der Familie, im Verein, in der Clique, kurz: Er brauchte sich bisher in seinem Leben nicht sonderlich anzustrengen, um Zuwendung zu bekommen.
Ich frage ihn, was er in der Beziehung zu Marie anders gemacht habe als in anderen Beziehungen. Die Frage ist kaum ausgesprochen, als er mir auch schon ins Wort fällt: »Ich habe sie ernst genommen«, entgegnet er. »Zu ernst?«, frage ich. »Sieht ganz so aus«, meint er. Ich bitte ihn zu überlegen, wie die Beziehung begonnen hat und was sich in dem Jahr seines Zusammenseins mit Marie verändert hat. Ich frage ihn auch, ob er sie vielleicht bedrängt, ihr die Luft zum Atmen genommen oder sie unter Druck gesetzt habe. Er berichtet, jetzt etwas freudiger, wie er und Marie sich kennengelernt haben. Sie hatten sich schon vor der Beziehung gekannt, sich aber aus den Augen verloren und sind sich dann eines Tages zufällig auf der Straße über den Weg gelaufen. Beide waren damals Singles, also verabredete man sich zwanglos. Kurze Zeit später wurden sie ein Paar. Mit Marie sei es fast zu perfekt gewesen, sagt Stephan nachdenklich. Sie stellte keine Ansprüche, sprach mit ihm nicht über Zusammenziehen, Kinder oder andere Zukunftspläne; er musste nicht mit ihren Eltern den Sonntagnachmittag verbringen und konnte auch weiterhin mit seinen Freunden um die Häuser ziehen. Auch mit anderen Frauen dürfe er sich treffen, fand Marie, das sei völlig in
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