Funkstille
brach sie den Kontakt ab, und zwar besonders gerne zu Festtagen und Geburtstagen. Am Ende hat sie sich zu Tode gehungert, um uns zu erpressen. Sie wollte nicht ins Pflegeheim, obwohl es keine andere Lösung gab. Das alles hat Rico natürlich mitbekommen, staunend und irritiert.«
Funkstille als Mittel der Erpressung, um den eigenen Willen durchzusetzen – das lässt mich an Majas Mutter denken, die ihrer verheirateten Tochter und Mutter dreier Kinder nicht zubilligt, eine eigene Meinung zu haben, eigene Wege zu gehen. »Eltern haben oft sehr fixe Vorstellungen davon, wie ihre Kinder sein sollen«, meint Udo Rauchfleisch. »Als Erziehungsgrundlage ist es gut und richtig, eine Vision zu haben: So stelle ich mir mein Kind vor. Aber wenn es darum geht, ob das Kind diese Vorstellung eins zu eins erfüllt, müssen Eltern Abstriche machen, erst recht, wenn das Kind bereits erwachsen ist. Ich muss dem Kind seinen Freiraum lassen und ein Stück Trauerarbeit leisten. Ich muss akzeptieren, dass meine Hoffnungen vielleicht nicht erfüllt werden.« Auch Lisa-Maria W. ist ein Kriegskind, doch ihre Eltern waren liebevoll und haben sie anthroposophisch erzogen. »Ich durfte alles«, betont sie immer wieder. Heute wissen wir, dass Kinder sich auf diese Weise auch zu »kleinen Tyrannen« entwickeln können. Wer alles darf, ist auch für alles verantwortlich. Lisa-Maria W.s neurotische Prägung ist sicherlich auch Folge dieser Erziehung, die im Grunde keine war. Ihre spätere Strenge den eigenen Kindern gegenüber entwickelte Lisa-Maria W. aus einer Art pubertärer Rebellion heraus. Sie wollte alles anders machen als ihre Eltern.
Lisa-Maria W. ist ein Machtmensch. Zu sagen, wo es langgeht, macht ihr Spaß. Wir, das Filmteam, beobachten, wie sie mit ihren Kindern und den Pflegekindern umgeht. Sie ist der Boss, so viel ist klar. Selbst bei den Dreharbeiten versucht sie gelegentlich, uns Anweisungen zu geben. Wir ahnen, was Michael über Jahre ertragen musste.
Doch ist unsere Protagonistin vielleicht weniger hart, als sie vorgibt zu sein? Mit der grenzenlosen Freiheit, die ihr ihre Eltern ließen, konnte sie schlichtweg nichts anfangen. Nach den Erfahrungen des Krieges suchte sie Strukturen, die Halt gaben: »Ich habe furchtbare Sachen in Berlin erlebt und gesehen – verbrannte Menschen in Häusern, Kinder mit geplatzten Lungen. Und wir haben sehr gehungert. Das wollte ich alles nicht mehr, deshalb heiratete ich auch einen reichen Mann, den ich mochte, aber nicht liebte«, vertraut Lisa-Maria W. uns an. Der Mann, den sie heiratete – ein Bauunternehmer, den ihr Vater konsequent verachtete –, sei ein Hallodri gewesen, ein Neureicher, wie man heute sagen würde, dessen Vater in den Puff ging und das Geld versoff. Vier Jahre fuhr ihr Mann zur See, bis er in das Gewerbe der Eltern einstieg. Der Ton im Hause war schroff und direkt. Die Kinder mussten parieren. Michael war wohl sensibler als seine Geschwister, vielleicht passte er einfach nicht in die Familie, denn er schwieg und zog sich zurück. Michael floh vor der Dominanz der Mutter und der Ignoranz des Vaters.
Auffällig ist, erinnert sich Lisa-Maria W., dass Michael erst sehr spät zu sprechen begann. »Ja, er war sprachlich schwierig dran, unterhielt sich wenig bis gar nicht.« Wenig verwunderlich finde ich das. Mit wem hätte Michael sich auch austauschen sollen? Offenbar interessierte sich ja niemand für seine Gedanken. »Stimmt«, sagt Lisa-Maria W. streng, nicht ohne sich sofort zu verteidigen: »Aber es ist nicht allein meine Schuld. Christian kam eineinhalb Jahre nach Michael auf die Welt und war von Anfang an ein ganz schwieriges Kind. Er tat einfach nicht, was ich wollte. Christian war wild, aufmüpfig und ungestüm, so wie ich als Kind. Er forderte meine ganze Aufmerksamkeit.« Und er bekam sie.
Welche Rolle spielt die Erziehung, wenn es um Kontaktabbrüche geht?, frage ich Udo Rauchfleisch. Der will den Einfluss des Elternhauses nicht schmälern, gibt aber auch zu bedenken, dass Eltern und ihre Kinder mitunter nicht so gut zueinander passen: »Die dominante Mutter passt vielleicht nicht so gut zu diesem sehr sensiblen Kind. Natürlich kann man sagen, dieses Kind müsste doppelt lernen, wie man mit Konflikten umgeht. Es ist Aufgabe der Familie, aber auch des Kindergartens und der Schule, zur Konfliktfähigkeit zu erziehen. Das Milieu, in dem das Kind aufwächst, prägt. Ich wäre nur vorsichtig, den Eltern das alleinig aufzuladen. Manche Eltern schaffen es einfach
Weitere Kostenlose Bücher