Funkstille
geht.«
Wie es aussieht, hat Stephan bei Marie den inneren Knall nicht wahrgenommen. Sie hatte sicherlich längst mit ihm abgeschlossen, als sie ihn verließ. Letztendlich, sagt Stephan, ist es wohl besser so. Seine Mutter habe ihm klar gemacht, dass das Problem bei Marie liege und nicht bei ihm, dass Marie bindungsgestört sei, vielleicht sogar psychisch krank, und dass er niemals mit ihr hätte glücklich werden können. Man könne nicht dauerhaft mit so jemandem zusammen sein, meinte sie. Stephan hat durch Marie eine Menge über sich selbst erfahren. Sie hat ihm das angetan, was er zuvor oft anderen Frauen angetan hatte. Sie beherrschte ihn, wie er zuvor andere Frauen beherrscht hatte. Sie war sein überzeichnetes Spiegelbild. Ob sie tatsächlich psychisch krank ist, kann niemand mit Sicherheit sagen. Gegen Ende unseres dreistündigen Gesprächs erklärt Stephan, dass er inzwischen wenigstens gelernt habe, dass das Leben nicht so rosarot sei, wie er es bisher erlebt habe. Er sei in Abgründe getaucht, die er zuvor nicht gekannt habe, und Marie habe Gefühle in ihm geweckt, von denen er bislang nicht wusste, dass sie existieren.
Seine Biografie sei bisher so geradlinig und schadlos verlaufen, dass es dazu praktisch nichts zu erzählen gebe. Das eine »magische« Jahr mit Marie habe sein Leben mehr geprägt als die gesamte Kindheit und Jugend, glaubt Stephan. Ich lasse ihn und beharre nicht darauf, mehr über seine »perfekten« Eltern zu erfahren, frage mich nur, ob er schon weiß, dass die einseitig rechtfertigende Erklärung seiner Mutter vermutlich nicht dauerhaft tragfähig sein wird. Stephan wird wohl irgendwann auch noch einmal in sich selbst nach den Gründen für diesen Kontaktabbruch suchen müssen.
Zugegebenermaßen ist es schwer, das eigene Leben objektiv zu betrachten, vielleicht sogar unmöglich. Christoph Schlingensief beschreibt in seiner Autobiografie So schön wie hier kann’s im Himmel gar nicht sein das Dilemma sehr treffend: »Die Freiheit des Einzelnen besteht wahrscheinlich darin, über sich selbst nachdenken zu dürfen. Aber das fällt schwer, weil man dafür seine Höhle verlassen müsste. Das ist kaum möglich. Man kann nur schwer über sich nachdenken, weil man nicht aus sich raustreten kann. Man kommt irgendwie nicht auf Distanz.«
»Da ist eine extreme Sensibilität und Hilflosigkeit«
Wenn es einen Kern gibt, gewissermaßen eine Schnittmenge der Biografien unserer Abbrecher, dann besteht er darin, dass in ihrer frühen Kindheit offenbar versäumt wurde, ihnen ein gesundes Urvertrauen zu geben – sei es, weil die Eltern nicht dazu in der Lage waren, ihr Kind liebevoll mit der Welt vertraut zu machen, sei es aus Selbstsucht oder Überforderung oder aufgrund schwieriger Lebensumstände. Ein Mangel an Urvertrauen begünstigt das Auftreten von Ängsten. Kinder müssen erst noch lernen, mit Ängsten umzugehen. Wenn ihr Umfeld nicht sicher und vertrauenerweckend ist, ziehen sie sich von der Welt zurück. Michael beispielsweise hat erst mit vier Jahren zu sprechen begonnen. Wir wissen bereits, dass er von seinen Eltern kaum liebevolle Zuwendung und echtes Interesse bekam. War er zu verunsichert, um früher zu sprechen?
Der britische Kinderpsychiater John Bowlby hat sich die Erfahrungen, die Menschen in ihrer frühen Kindheit machen, genauer angesehen. Seine Bindungstheorie besagt, dass niemand den frühkindlichen Erfahrungen entkommt, ja mehr noch: dass sie sich fortpflanzen und über Generationen weitergegeben werden. Entscheidend ist, auf wen das Neugeborene nach der Geburt trifft.
Das »sicher gebundene« Kind wird später in der Lage sein, sich den Herausforderungen des Lebens zu stellen und dabei auf seine Stärken zu vertrauen. Die Bindungsforschung hat im Zuge der Beobachtung von Kindern drei weitere Bindungstypen ausgemacht: zum einen den »unsicher-vermeidenden« Typus, der distanziert bleibt, weil er kein Vertrauen in die Verlässlichkeit einer Bezugsperson entwickeln konnte. Kinder dieses Typus glauben kein Recht auf Liebe und Zuwendung zu haben. Zum anderen den »unsicher-ambivalenten« Typus, der zwischen Trennungsangst und einer Wut schwankt, die sich gleichermaßen gegen sich selbst und die Bezugsperson richtet. Unsicher-ambivalent gebundene Kinder stecken voller Angst, weil die Bezugsperson unberechenbar zwischen Zuwendung und Abweisung schwankt. Menschen, die in ihrer Kindheit keine sichere Bindung zu ihren Bezugspersonen aufbauen konnten, tun sich als Erwachsene
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