Funkstille
schwer damit, Gefühle zu zeigen, weil sie hin- und hergerissen sind zwischen dem Bedürfnis nach Nähe und der Furcht, dass dieses Verlangen nicht erwidert wird. Schließlich gibt es noch den vierten Bindungstyp, den »desorganisierten«, der Missbrauchserfahrungen gemacht oder andere gravierende Beeinträchtigungen in der Kindheit erfahren hat. Die Bezugsperson ist entweder selbst eine Bedrohung für das Kind oder leidet ihrerseits unter einem Trauma, dessen Grund dem Kind verborgen bleibt – in beiden Fällen erlebt das Kind die Umwelt als einen Ort des Schreckens. Eine desorganisierte Bindung in der Kindheit erhöht das Risiko einer späteren psychischen Erkrankung.
Welche Art von Bindung ein Kind zu seinen erwachsenen Bezugspersonen entwickeln kann, hängt in hohem Maße davon ab, wie diese selbst mit dem Thema umgehen und wie sie auf das Bindungsbedürfnis des Kindes reagieren. Das haben verschiedene Studien belegt. In der Hirnforschung deutet manches darauf hin, dass bestimmte Verschaltungen im kindlichen Gehirn zu lebenslangen »biologischen Narben« führen können. Fest steht: Damit ein Mensch zu einer stabilen Persönlichkeit wird, die den Schwierigkeiten des Lebens gewachsen ist, braucht er in der frühen Kindheit eine stabile Bindung. Sie kann von der Mutter, aber auch vom Vater und am besten von beiden ausgehen. Wichtig ist einzig der Grad der »Feinfühligkeit«, mit dem das Kind angenommen wird. »Die Verzerrungen im Fühlen und Denken, die einer frühen Bindungsstörung entstammen, entstehen meistens als Antworten des Kindes auf die Unfähigkeit der Eltern, seinen Bedürfnissen nach Wohlbefinden, Sicherheit und emotionaler Beruhigung Rechnung zu tragen«, resümiert John Bowlby. Und dem Bedürfnis nach Kommunikation, Anregung und Bestätigung, kann ergänzend hinzugefügt werden. Das Elternhaus ist nicht allein verantwortlich für das spätere Leben und die Persönlichkeit eines Menschen. Aber dort erfolgen Weichenstellungen in die eine oder andere Richtung. Frühe Prägungen können Möglichkeiten erschließen helfen. Sie können aber auch Hemmnisse sein, die später nur mit großer Anstrengung zu überwinden sind.
Lisa-Maria W. hat selbst eingeräumt, dass sie ihren Sohn Michael nie in den Arm genommen und ihm auch nicht wirklich etwas zugetraut hatte. Zu seinem Vater hatte Michael gar kein Verhältnis. Wie fühlt es sich an, ohne Zuneigung und Anerkennung aufzuwachsen? Eine sichere Bindung konnte Michael wohl kaum entwickeln. Doch wie sollte er so ein Gefühl für die eigene Wertigkeit bekommen? Ja, für den Sinn seines Daseins?
Eine positive Vorstellung von der Welt der Erwachsenen konnte Michael wohl ebenfalls kaum entwickeln. Seine Eltern kamen als Leitbilder für die Entwicklung eines gesunden Selbstbildes nicht in Frage. Wie sollte er da vertraut werden mit sich und der Welt? Vertraut sein ist aber die Basis des Vertrauen-Könnens.
Bei meinen Telefonaten mit Michael klang er kühl und distanziert. Ich hatte den Eindruck, dass er schlichtweg nicht gelernt hatte, wie man Gefühle zeigt. Irgendwann sind ihm wohl die Gefühle für seine Mutter abhandengekommen. Vielleicht hat er sie sich auch, um sich zu schützen, mühsam abtrainiert. Wenn man die Welt als kalt, leer und unheimlich erlebt, zieht man sich logischerweise zurück. Michaels Stimme hat einen harten Klang. Man ahnt, dass er sich stark und »cool« anhören möchte, spürt aber auch die Anstrengung, die ihn das kostet. Er ist ein unzugänglicher, schwer fassbarer Mensch geworden, bindungs- und scheinbar auch emotionslos.
Ist die Funkstille gar aus einer Art von emotionalem Analphabetismus geboren? Professor Udo Rauchfleisch meint: »Nicht unbedingt. Denn emotionaler Analphabetismus heißt ja, dass jemand eigene Gefühle und die anderer gar nicht wahrnimmt. Hier ist ja fast das Gegenteil der Fall. Da ist extreme Sensibilität und Hilflosigkeit: ›Ich kann mich nicht verständlich machen in meinen Argumenten, deshalb brauche ich Distanz in der Beziehung.‹ Da sind extrem viele Emotionen im Spiel, die aber nicht umgesetzt werden können.«
Michael hat also doch Emotionen, die er aber nicht auf eine Weise äußern kann, die seine Umwelt versteht. Seine Gefühle bleiben unreflektiert im Raum hängen. Wie wir bereits erfahren haben, ist die Funkstille in erster Linie Sprachlosigkeit, auch wenn sie durchaus etwas zu verstehen geben will. Welche Rolle spielt es in Michaels Fall, dass der Vater in der Familie so gut wie nicht vorhanden
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