Funkstille
nicht, ihre Kinder entsprechend ihren Anlagen zu erziehen – sei es, dass sie emotional überfordert oder in einer schwierigen Partnerschaft oder ökonomisch verstrickt sind.«
Lisa-Maria W. und ihr ungeliebter Ehemann trennten sich, als Michael 18 Jahre alt war. Er wohnte noch eine Zeit lang abwechselnd bei seiner Mutter und seiner Großmutter, bis ein neuer Mann ins Leben seiner Mutter trat. Der Neue war Arzt, gebildet und Alkoholiker. Michael hasste ihn. Lisa-Maria W. hat die vage Vermutung, dass Michael eifersüchtig auf ihn war.
Es sind Bemerkungen wie diese, die bei mir immer wieder den Eindruck erwecken, dass Lisa-Maria W. an einem wirklichen Mutter-Sohn-Verhältnis nicht interessiert ist. Mitunter kommt es mir vor, als ob sie über Michael spräche wie über einen Verflossenen.
»Ich glaubte, ich würde damit fertig, und ahnte nicht, dass es doch Folgen hatte«
Ich fühle mich ein wenig an das symbiotische Verhältnis zwischen Isabella M. und ihrem Sohn Jan erinnert. Wie sieht hier die Lebensgeschichte der Mutter aus? Was hat sie von ihren Eltern mitbekommen, was fehlte ihr, und was hat sie weitergegeben, bewusst oder unbewusst? Es gab bisher viele Andeutungen von ihrer Seite und harte Anschuldigungen von Seiten ihres Sohnes. Hat Jan in seiner Radikalität nicht doch etwas übertrieben?
Ich besuche noch einmal die attraktive Frau in ihrer schönen Altbauwohnung. Wir sprechen ein wenig über die Prägung durch die Biografie und andere Einflussfaktoren. Schließlich taste ich mich an die Frage heran, die mir seit Langem auf der Zunge liegt. Fragen Sie nur, meint Isabella M. Mir fällt auf, dass ihre Augenlider leicht zucken. Ein Zeichen ihrer inneren Anspannung? Ahnt sie schon, in welche Richtung das Gespräch sich wenden wird? Ich berichte ihr, dass Jan behauptet, der Sohn einer nicht therapierten Missbrauchsmutter zu sein und alles Übel, das ihm widerfahren ist, daraus herleitet. Leise, aber ohne Umschweife beginnt Isabella M. ihre Geschichte einer nicht allzu glücklichen Kindheit zu erzählen und stellt von vornherein klar: »Ja, ich wurde missbraucht, und zwar von meinem Vater. Ich konnte mich auch daran erinnern, dachte aber immer, dass mir das keinen Schaden zugefügt habe. Ich glaubte, ich würde damit fertig und ahnte nicht, dass es doch Folgen für mich hatte und mein Leben überschattete und vielleicht auch das von Jan. Wenn man genau hinschaute, sah man, dass mein Verhältnis zu Männern gestört war. Mit 30 reichte ich die Scheidung ein. Danach hatte ich einige Affären und schließlich ein langes Verhältnis zu einem sehr vermögenden Mann. Was mir aber schon immer auffiel: Ich konnte nie mit Männern, die ich mochte, zum Abendessen gehen, da zitterte ich und konnte das Glas nicht halten.
Und noch etwas verunsicherte mich immer wieder: Ich bin ja Personalberaterin, und bei Kundengesprächen mit Männern war ich immer extrem nervös. Dann kam die Katastrophe, danach bin ich auch in Therapie gegangen. Damals herrschte in der Personalberatung eine Rezession, und ich musste anfangen zu akquirieren. Ich zitterte am Telefon, bekam Halsentzündungen, wenn ich mit Männern sprechen musste. Ich war nicht mehr in der Lage, das Geld zu verdienen, das ich zum Leben brauchte. Schon bei der ersten Gesprächsanalyse kam heraus, dass ich mich bei der Akquise gewissermaßen einem Mann anbieten muss und dass diese Situation mich retraumatisierte. Ich hatte den Missbrauch durch meinen Vater verdrängt.«
Vielleicht, so überlege ich, muss man die Vergangenheit für eine gewisse Zeit vergessen, wenn man überleben will, etwa wenn diese Vergangenheit so schmerzhaft ist, dass sie eine unerträgliche Bürde darstellt. Doch die Verdrängung des Schmerzes hat offenbar Folgen. Mit ihr werden wichtige Lebensabschnitte einfach ausgeblendet. Diese Lücken bewirken, dass alles, was man sich danach im Leben aufbaut, auf wackeligen Füßen steht.
Jan behauptet, dass seine Mutter das Erlebte auf ihn übertragen und ihn dadurch in gewisser Weise ebenfalls missbraucht habe, erzähle ich ihr. Isabella M. nimmt einen Schluck Wasser, sichtlich erschöpft vom Erzählen einer Kindheit, die keine war. Keine Liebe und Zuwendung, dafür Missbrauch und emotionale Kälte. Sie ist Einzelkind. Gerne hätte sie auch studiert, die Schulnoten waren entsprechend, doch ihre Eltern ließen sie nur den Realschulabschluss machen. Sie brach früh aus der provinziellen Enge im Sauerländischen aus. Die jung geschlossene Ehe war auch eine
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