Funkstille
Flucht.
Meine indirekte Frage danach, ob sie das Erlebte in gewisser Weise auf ihren Sohn übertragen hat, mag Isabella M. offenbar nicht gleich beantworten, stattdessen nimmt das Gespräch eine andere Wendung. Sie schaut sich in ihrer Wohnung um und zupft ihr Kleid zurecht. »Gefällt Ihnen die Wohnung?«, fragt sie mit einer Stimme, die Stolz verrät. Und im Plauderton erklärt sie, dass sie schöne Kleider, Mode überhaupt liebe und es wichtig finde, die Wohnung ansprechend zu gestalten. Tatsächlich ist sie sehr geschmackvoll eingerichtet.
Nachdem wir noch eine Weile über Mode geplaudert haben, resümiert Isabella M. lächelnd: »Ja, die Kleidung war mir immer sehr wichtig. Missbrauch ist ja auch ein Stigma, und ich wollte mit guter Kleidung mein Stigma verbergen.« Sie zupft verlegen das rot gefärbte Haar zurecht, und nun weiß ich endlich, warum ich so oft den Eindruck habe, dass ihr Lächeln gewissermaßen vereist ist. Wahrscheinlich hat Isabella M. sich dieses Lächeln antrainiert, denn die meisten Menschen können den Umstand, dass jemand innerlich zerrissen ist, nur unter der Bedingung ertragen, dass dieser ein Lächeln hat, das über die Zerrissenheit hinwegtäuscht. Isabella M. lebt als Selbständige von dem Eindruck, den sie auf ihre Kunden macht.
Die Verletzungen durch die Eltern müssen nicht körperlich sein, um großen Schaden anzurichten, manchmal reichen nur wenige Worte. Meine Freundin Vicky, die PR -Frau, erzählt: »Der erste Bruch in meinem Leben passierte, als ich zwölf Jahre alt war. Ich vergötterte meinen Vater. Er war mein Held, auch wenn er sehr streng war. Eines Tages hörte ich, wie er zu einem Freund sagte: ›Der kannst du alles erzählen.‹ Ich war maßlos enttäuscht.« Die verletzende Bemerkung des Vaters veränderte Vickys Verhältnis zur Umwelt und beeinflusste ihre Beziehung zu Männern. Ein Riss kam dadurch in ihr Leben, und auch wenn sie die Fuge immer wieder abdichtete, brach dieser Riss doch immer wieder von neuem auf. Die Bemerkung des Vaters begleitet bis heute ihr Leben. Damals hatten diese wenigen Worte die liebevollen Gefühle für ihren Vater auf einen Schlag verändert und damit die ganze Welt eines bis dahin von Vertrauen erfüllten Kindes komplett auf den Kopf gestellt. Vickys Vater hatte sich mit seiner Bemerkung selbst entzaubert, und sie war ihrerseits nun nicht mehr die tolle Tochter eines tollen Vaters. Er hatte ihr den Boden unter den Füßen weggezogen, das Grundgefühl der Sicherheit versickerte so tief, dass sie später lange graben musste, um es wiederzufinden.
Vickys Vater stammt aus Osteuropa und war schon früh nach Deutschland gekommen. Ihre Mutter ist Deutsche. Eigentlich wollten die Eltern keine Kinder, und Vickys Mutter ließ auch keine Gelegenheit aus, ihre Tochter dies spüren zu lassen. »Ja, ich war ungewollt, aber wenn ich nun schon einmal da war, dachten sie wohl, dann solle ich wenigstens perfekt werden. Ich musste gute Noten schreiben, und wenn das nicht klappte, gab es Schläge.« Ihre Eltern liebten Vicky nicht um ihrer selbst willen – die Grundsicherheit, die sich entwickelt, wenn ein Kind sich geliebt und angenommen fühlt, fehlte ihr, ähnlich wie bei Michael. Er ist jedoch ein Abbrecher, Vicky dagegen eine Verlassene. Derjenige, der geht und der, der zurückbleibt, können also ähnliche Biografien haben, wie wir schon bei Ute und Claudia sowie dem Wissenschaftler und seiner Schwester gesehen haben. Ob sie später den Kontakt abbrechen oder verlassen werden, hängt davon ab, ob und wie sie im Erwachsenenleben aufgefangen werden.
Vicky sucht Geborgenheit, zuverlässige Bindungen, das, was sie von ihren Eltern als unerwünschtes Kind nicht bekommen hatte. Bei einem Glas Wein erzählt sie offen von ihren Eltern und dem Konflikt mit dem Vater. Was ich zu hören bekomme, wundert mich, denn ich kenne Vickys Vater. Er wirkt sympathisch, offen und seiner Tochter liebevoll zugetan. Menschen können sich ändern, glaubt Vicky. Das Verhältnis zum Vater habe sich sehr verbessert. Das Grundproblem aber sei geblieben: die Angst vor dem Verlassen-Werden. Diese tiefe Angst muss aus der ganz frühen Kindheit herrühren, glaubt Vicky. »Warum?«, frage ich. Sie sei enttäuscht worden, aber nicht verlassen, oder? Vicky setzt noch einmal an, nun früher in ihrer Biografie: Die ersten zwei Jahre ihres Lebens hat sie bei ihren Großeltern verbracht. Nachdem ihr Vater eine Wohnung für die Familie gefunden hatte, musste sie dort weg. Ihre
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