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Funkstille

Funkstille

Titel: Funkstille Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klett-Cotta Verlag
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gewesen sei, dabei habe sie nur gelegentlich als Fotomodell auf Messen ein wenig Geld hinzuverdient, und auch der Vater sei nicht lange der tolle Held gewesen, zu dem Jan ihn machte, später sei er gar in kriminelle Machenschaften hineingeraten. Ich wende ein, dass Jan durchaus, wenn auch nicht ohne Stolz in der Stimme, erzählt habe, dass sein Vater mit Waffen gehandelt habe.
    »Da sehen Sie es doch«, triumphiert Isabella M., »müsste er nicht mit 43 Jahren eigene Storys aus seinem Leben erzählen? Lieber gibt er mit alten Geschichten der Eltern an, die er doch eigentlich verachtet, oder aber – was noch schlimmer ist – er strickt sich einen Lebenslauf zurecht, der völlig an der Realität vorbeigeht. Jede Kleinigkeit ist bei ihm eine enorme Leistung, bei anderen ist es das nicht. Er überschätzt sich maßlos, behauptet, er habe so viele Talente, da sage ich: ›Ja, aber du hast nichts draus gemacht‹.«
    Ich kenne Jan und weiß, dass er narzisstische Züge hat, dennoch glaube ich, dass er aus seinen Begabungen etwas gemacht hat: Er kann schreiben und sich gut präsentieren. Er hat immerhin ein Buch veröffentlicht, eine kleine Familie gegründet, die er allerdings nicht allein versorgen kann. Wenn seine Mutter glaubt, dass er nichts aus seinem Leben gemacht habe, darf Jan sich zu Recht gekränkt fühlen. Narzissten hängen einem idealistisch überhöhten Selbstbild an. Aber um diesem Selbstbild nahezukommen, leisten sie im Leben tatsächlich oft sehr viel.
    Die von mir befragten Experten erklären unisono, dass eine narzisstische Persönlichkeit eher dazu neigt, eine Funkstille zu initialisieren als andere Menschen, denn der Kontaktabbruch ist auch eine narzisstische Aufwertung. Wer von einem Tag auf den anderen geht und jede Kommunikation verweigert, gibt den Ton an und setzt den anderen unter Druck. Der, so sieht es aus, ist nun zum Warten verurteilt, ist abhängig davon, dass der Abbrecher den Kontakt wieder aufnimmt. Paradoxerweise ist jedoch gerade der Narzisst der Abhängige, erklärt mir Professor Rauchfleisch. »Genau deshalb, weil er diese Abhängigkeit nicht ertragen kann, verlässt er, ohne definitiv einen Schlussstrich zu ziehen. Narzissten brechen bei der kleinsten Gelegenheit ab, weil sie zutiefst gekränkt, aber nicht in der Lage sind zu sagen: So, jetzt habe ich genug. Sie gehen einfach, aber nicht, weil sie stark wären oder sich gegenüber der anderen Person behaupten könnten, sondern weil sie extrem unsicher sind.« Also ist der Abbrecher doch zumindest psychisch instabil?, frage ich nach. Ist sein Verhalten auch pathologisch? »Es wäre zu einfach, das mit einem psychologischen Etikett zu versehen. Das ist wie bei der Gewalt, da kann man auch nicht sagen, dass alle Gewalttäter psychisch krank sind. Es handelt sich nicht um hochpathologische Menschen. Eher geht es um bestimmte Umstände und bestimmte Reaktionsformen, die zum Abbruch führen. Der Abbrecher, der sich in eine extreme Abhängigkeit von einer anderen Person gebracht hat, erträgt diese Abhängigkeit nicht mehr und geht – allerdings in der falschen Hoffnung, dadurch die Abhängigkeit zu überwinden.«
    Der Abbrecher ist also nicht notwendigerweise ein Narzisst, resümiere ich und überlege weiter: Wäre nicht auch denkbar, dass der Verlassene narzisstische Züge trägt und den Kontaktabbruch durch sein Verhalten provoziert, um sich aus seiner Abhängigkeit zu befreien? Der »schwarze Peter«, das »gestörte« Verhalten, könnte dann dem Abbrecher zugeschoben werden. Der Experte bekräftigt noch einmal: »Möglich wäre das. Es sind jedenfalls eher spezifische Konstellationen und Umstände, bestimmte Persönlichkeiten, die in dieser Art aufeinander reagieren und in anderen Konstellationen wahrscheinlich anders reagieren würden. Läge tatsächlich eine echte narzisstische Störung vor, also etwas Pathologisches, dann würden die Betroffenen in ganz verschiedenen Situationen und mit ganz verschiedenen Menschen ähnlich reagieren.«
    Ich denke an Jans Aussage, dass es im Konflikt mit seiner Mutter für ihn irgendwann um Leben und Tod ging und daran, wie er Außenstehenden gegenüber doch auch immer wieder mit seinen Eltern angeben zu müssen meinte. Was mich umtreibt, ist die Frage, ob man einen Menschen mit narzisstischen Zügen mit seinem idealisierten Selbstbild, seinen Lebenslügen konfrontieren darf. Bricht für den Narzissten dann nicht die ganze Welt zusammen?
    Udo Rauchfleisch bestätigt: »Ja, das kann sehr heikel

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