Funkstille
ist, vor allem, weil man sie ja gerade wegen des Mangels an Nahkontakt nicht korrigieren kann. Denn jemanden darüber zu befragen, ihm seine Unsicherheit und Angst mitzuteilen, würde eine vertraute Nähe voraussetzen; da man diese zu niemandem hat, glaubt man befürchten zu müssen, nicht verstanden, verlacht oder gar für verrückt gehalten zu werden.« Auch Michael könnte, betrachtet man seine Bindungsscheu genauer, schizoide Anteile in seiner Persönlichkeit haben. Dafür spricht, dass er im menschlichen Umgang keine Zwischentöne kennt. Jeder andere Mensch ist entweder für oder gegen ihn, es gibt nur aggressiven Angriff oder totalen Rückzug. Der schizoide Mensch empfindet sein Verhalten als der Situation angemessen, denn er hat ja mangels Austausch mit anderen keinen Vergleichsmaßstab.
Michael hatte sich mehrfach überstürzt verlobt, um kurz vor der Hochzeit die Verbindung zu lösen, ohne Erklärung. Liebe bedeutet für den schizoiden Menschen ein Sich-Ausliefern. Obwohl sie gesteigerten Wert auf Distanz legen, verhalten schizoide Menschen sich oft extrem eifersüchtig. Weil frühkindliche Abwertungen in ihnen nachwirken, halten sie sich für wenig liebenswert und sehen ihre Beziehungen schneller als andere Menschen durch vermeintliche Rivalen bedroht. Ihrem Partner unterstellen sie dann häufig Dinge, die nicht stimmen und führen so tatsächlich das Ende der Beziehung herbei. Michael behauptete jedes Mal, wenn er eine Beziehung abbrach, dass seine Freundin ihn betrogen habe. Nach Riemann steckt dahinter die tiefgreifende Überzeugung: »Wenn es schon nicht möglich scheint, dass ich geliebt werden kann – dann bin ich wenigstens der Handelnde und nicht nur der Leidende. Nur so kann man die Verhaltensweisen des schizoiden Menschen verstehen, dass er gerade da, wo er lieben und geliebt werden möchte, sich besonders wenig liebenswert zeigt. Wendet sich dann der Partner von ihm ab, ist das für ihn weniger schmerzlich, als wenn er sich wirklich um ihn bemüht hätte und dennoch verlassen werden würde. Solch eine Enttäuschungsprophylaxe ist bei schizoiden Menschen nicht selten.« Macht der schizoide Mensch aus seiner Not eine Tugend, indem er seine übersteigerte Selbstbezogenheit und Isolation zu einem Wert erhebt, kann sich seine Haltung bis zu extremen Formen des Narzissmus steigern.
»Ich habe keine Schwächen« – Die narzisstische Persönlichkeit
Der Wissenschaftler und seine Schwester hatten sich während meiner Recherchen einander wieder angenähert. Der Vater war gestorben, und die gemeinsame Trauer brachte sie dazu, wieder miteinander zu reden. Nach einigen Monaten entschlossen sie sich, ihr Kommunikationsproblem gemeinsam bei einem Therapeuten zu besprechen. Offenbar gab es auf beiden Seiten das Bedürfnis nach einer Normalisierung des Verhältnisses.
»Bei dem Therapiegespräch war meine Schwester voller Angst. Das hat mich sehr berührt«, so der Wissenschaftler. Dennoch war sie offen genug, ihm zu sagen, was sie vor zehn Jahren zum Kontaktabbruch veranlasst hatte. Wir erinnern uns: Der Bruder hatte zu ihrem Freund gesagt: »Und du vögelst nun also mein Schwesterchen.« Dieser Satz hatte sie zutiefst verletzt. Alles, was danach folgte, alles, was der Bruder sagte, tat oder nicht tat, wertete sie als Angriff auf ihre Person. Er wurde ihr Feind, einer, der sie vernichten wollte mit achtlos hingeworfenen Worten und versäumten Entschuldigungen. Jedes Wort wurde zur Attacke, jeder harmlose Satz erschütterte ihr zerbrechliches Selbstwertgefühl. Im Therapeutengespräch stellte die Schwester sich selbst die Diagnose, einen narzisstischen Defekt mit einer großen Selbstwertproblematik zu haben.
Offenbar erlebte sie selbst ihr Verhalten als überzogen und anormal. Ihr Bruder wiederum gab zu, zeitweise unsensibel gewesen zu sein und sich der Schwester gegenüber überheblich verhalten zu haben, wenn auch nicht mit Absicht. Er entschuldigte sich für seine unflätigen Worte und dafür, dass er seine Schwester offenbar tief verletzt hatte. Sie nahm die Entschuldigung an, und es besteht Grund zu der Hoffnung, dass es den Geschwistern in Zukunft gelingen wird, einander wieder näherzukommen. Doch was hat es mit der Eigendiagnose der Schwester auf sich? Begünstigt Narzissmus den plötzlichen Kontaktabbruch, und aus welchen Gründen entwickelt ein Mensch sich zu einer narzisstischen Persönlichkeit?
Psychologen sprechen im Zusammenhang mit der sogenannten »narzisstischen Persönlichkeitsstörung«
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