Funkstille
sein. Eine Lebenslüge frontal anzugehen kann schlimmstenfalls zum Suizid führen!« Wie kann man dann als Psychoanalytiker dieses Trugbild demaskieren, ohne den Patienten dabei zu gefährden?, will ich wissen. »Man muss es vorsichtig angehen. Man geht nicht gleich im ersten Schritt diese narzisstischen Kompensationen des Minderwertigkeitsgefühls an, sondern man versucht, das Selbstwertgefühl auf einer ganz realistischen Grundlage zu stärken: Zum Beispiel indem man schaut, wo hat jemand wirklich Erfolge, und wo nimmt jemand womöglich das eigene Potenzial gar nicht wahr? Man versucht also, das Selbstwertgefühl zu stabilisieren und damit das unrealistische, idealisierte Selbstbild nach und nach überflüssig zu machen.«
Ich ziehe ein Fazit: Die Funkstille ist doch wohl ein ungeeigneter Versuch, sich aus seelischen Verstrickungen zu lösen. Professor Rauchfleisch bewertet das ähnlich: »Ja, weil das für beide enorme Belastungen mit sich bringt, es sei denn, einer kann den Schlussstrich ziehen, innerlich Trauerarbeit leisten und irgendwann sagen: Jetzt ist es vorbei. Dieses gedankliche Kreisen im Zustand der Funkstille kann aber definitiv krank machen, körperlich wie psychisch.« Professor Martin Teising hat vor allem die Verlassenen im Blick, wenn er die Funkstille als »Waffe« bezeichnet und hinzufügt: »Wie wir wissen, können Kränkungen krank machen. Im Englischen heißt Kränkung ›Mortification‹. Kränkendes kann einen tödlichen Charakter haben. Mit der Funkstille vernichte ich den anderen in seiner Existenz. Es ist eine Form der Vernichtung, wenn man sich nicht erklärt.«
»Da wusste ich, dass ich therapeutische Hilfe brauchte« – Psychosen und die genetische Disposition
Einige der Verlassenen, mit denen ich gesprochen habe, mussten sich für einige Zeit in eine psychosomatische Klinik einweisen lassen. Ein Beispiel dafür, dass es pathologische Ursachen für die Funkstille geben kann, sind Rico und seine Mutter Marina M. Inzwischen wisse sie, dass Ricos schwerer Unfall eine vermutlich genetisch bedingte Grunderkrankung zum Ausbruch gebracht hat, erzählt mir Marina M. Bei Rico haben Fachleute eine schizophrene Psychose diagnostiziert. Schon sein Vater sei schizophren gewesen, berichtet mir die Mutter, und in ihrer Familie habe es mehrere Suizide gegeben. Als Rico drei Jahre alt war, trennten sich seine Eltern. Sein Vater hatte sich langsam zu Tode gesoffen und die letzte Zeit seines Lebens auf der Straße verbracht. Rico hatte zwar keinen Kontakt zu seinem Vater, wusste aber um dessen Zustand.
Marina M. versuchte nach der Trennung von ihrem Mann, ihren beiden Kindern den Vater so gut wie möglich zu ersetzen. Sie musste finanziell allein für die Familie aufkommen. »Ricos Unfall hat sein Leben zerstört, unser Leben. Irgendwann fing er an, gegen seine körperlichen und seelischen Schmerzen Drogen zu nehmen. Wir gingen zu verschiedenen Therapeuten und Psychiatern, aber Rico schaffte es, sie auszutricksen, und schließlich war ich es, die für hysterisch gehalten wurde.« Rico griff unterdessen zu immer härteren Drogen. Seiner Mutter riet man, die Drogenabhängigkeit nicht zu dramatisieren. Zu seiner Schwester hatte Rico kein gutes Verhältnis. Die Geschwister stritten sich und buhlten um die Aufmerksamkeit der Mutter. Meistens gewann Rico. »Unsere Beziehung war eng, sehr eng. Er hatte ja keinen Vater, seinen Stiefvater hat er nie akzeptiert. Rico und ich schwankten immer zwischen extremer Nähe und Ausbruchsversuchen seinerseits. Mein Lebensgefährte und jetziger Mann wohnte zunächst nicht bei mir, wegen Rico. Mein Sohn war vollkommen abhängig von mir, auch finanziell, deshalb habe ich ihn auch nicht rausgeworfen.«
Eine verhängnisvolle Konstellation: Beide, Mutter und Sohn, wollten ein eigenes Leben führen und waren doch voneinander abhängig. Marina M. mag ihrem Sohn zeitweise insgeheim sehr übelgenommen haben, dass er ihr Leben so umfassend bestimmte, und Rico wird es nicht anders gegangen sein. Auch hier ist die Funkstille der Versuch, sich aus einer Abhängigkeit zu befreien. Vielleicht wollte Rico auf diese Weise auch seine Mutter freigeben, mutmaße ich. Sie wisse es nicht genau, meint Marina M., die diesen Gedanken aber nicht für ganz abwegig hält, denn eigentlich habe Rico immer gewollt, dass es ihr gut gehe, wollte sie manchmal gar beschützen. Die Beziehung war schlichtweg zu eng, bis Liebe in Hass umschlug und Verzweiflung in Aggression.
Marina M. zündet sich eine
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