Funkstille
Marie kalt, unpersönlich, ja geradezu abweisend, obwohl sie ihn andererseits darum beneideten, dass sie ihm so viele Freiheiten ließ – Freiheiten, die Stephan gar nicht wollte.
Ich erinnere mich an eine Äußerung von Stephan während unseres ersten Gesprächs, nachdem Marie ihn verlassen hatte: »Ich dachte, ich kenne sie, und jetzt habe ich das Gefühl, nicht mal eine Spur ihres wahren Ich gekannt zu haben. Sie hat mich geblendet und getäuscht.«
Dabei war Marie sich wahrscheinlich selbst über ihre Gefühlslage nicht im Klaren. Stephan war ihr sehr nahe gekommen. Wie sollte sie damit umgehen? Freunde hatte sie nicht, darum fehlte ihr der Austausch mit anderen. Durch die Distanz, die sie zu ihrer Umwelt aufgebaut hatte, hatte sie Defizite in der Erfahrung mit Menschen, ihren Gefühlen und Verhaltensweisen, fast wie ein Autist. Ihr fehlt die zwischenmenschliche Orientierung. Marie hat keine Routine im Umgang mit Menschen, deshalb kann sie sich auch nur schlecht in andere einfühlen. Ein Mensch mit einer schizoiden Persönlichkeit ist wenig bis gar nicht empathisch. Wirklich vertraut ist er nur mit sich selbst. Nähe könnte sein Ich ins Wanken bringen, seine Identität gefährden. Er braucht Distanz, so Riemann, um seinen Halt an sich selbst nicht zu verlieren. Und so kommt es, dass mit ihm eine Atmosphäre von Vertrautheit oder Innigkeit gar nicht erst aufkommt. Hinter dem übersteigerten Bedürfnis nach Distanz steckt eine tiefe Unsicherheit, die aus der Kindheit herrühren kann. Menschen mit einer schizoiden Persönlichkeit waren oft ungeliebte oder unerwünschte Kinder. Sie mussten Strategien entwickeln, die sie vor einer gleichgültigen bis feindseligen Umwelt schützten.
Denken wir an Michael und Claudia. Sie wurden früh enttäuscht, von den Eltern ignoriert, bestraft und sogar abgeschoben. »Das größte Übel, das wir unseren Mitmenschen antun können, ist nicht, sie zu hassen, sondern ihnen gegenüber gleichgültig zu sein. Das ist die absolute Unmenschlichkeit«, sagte der irische Dramatiker George Bernard Shaw. Michaels und Claudias Kindheit war geprägt von Abwertungen. Sie konnten sich dagegen nur schützen, indem sie als Erwachsene nur noch sich selbst vertrauten und für andere unerreichbar wurden. Situationen, in denen kindliche Traumata wiederbelebt werden, reißen die alten Wunden wieder auf. Vermutlich ist es kein Zufall, dass Claudia den zunächst innigen Kontakt zu ihrer Nichte Annika abbrach, als diese so alt war wie Claudias Tochter, als sie starb.
Natürlich kann jeder Mensch – ob seelisch krank oder nicht – durch eine schlimme äußere Erfahrung traumatisiert werden. Die psychische (Schutz-)Reaktion ist dann häufig eine sogenannte »Dissoziation«: Der betroffene Mensch spaltet das Geschehene von sich ab, so als wäre es nicht ihm, sondern jemand anderem passiert. Brechen solche eingekapselten Persönlichkeitsanteile dann zu einem späteren Zeitpunkt wieder auf, kann dies verheerende Folgen haben. In manchen Fällen führt die Dissoziation zu einem Fluchtverhalten, das immerhin so häufig und gleichförmig vorkommt, dass es in der Fachwelt einen eigenen Namen bekommen hat: »Fugue« – ein plötzliches, für Außenstehende unmotiviert scheinendes Weggehen, das mit der Unfähigkeit verbunden sein kann, sich an die eigene Vergangenheit einschließlich vertrauter Menschen zu erinnern. Dieser Zustand kann kurz oder länger andauern, ja sogar zur Herausbildung einer neuen Identität führen.
Mir fällt Claudias Verhalten im Treppenhaus ihres Berliner Wohnhauses wieder ein. Zweifellos hat sie schwere Traumata erlitten. Vielleicht erkannte sie Ute in der Situation des plötzlichen Aufeinandertreffens tatsächlich nicht mehr? Hat sie – zumindest für sich – eine neue Identität angenommen und die Vergangenheit radikal von sich abgeschnitten? Wäre es so, dann müsste Ute sich mit der Suche nach dem »Warum?« und der Frage nach ihrer Schuld nicht mehr derart quälen. Claudia hätte dann aufgrund ihrer massiven Traumatisierung die Vergangenheit aus ihrem Bewusstsein gelöscht, und mit ihr alle Personen, die Teil dieser schmerzhaften Zeit waren.
Der Mangel an altersgemäßer Geborgenheit in frühester Kindheit ist die Kurzformel für die Entwicklung schizoider Persönlichkeitsstrukturen, fasst Fritz Riemann zusammen, und er beschreibt gleichsam die Folgen: »Man kann sich vorstellen, wie quälend und zutiefst beunruhigend es sein muss, wenn diese Unsicherheit ein Dauerzustand
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