Funkstille
von »Kränkungen«. Im Kern geht es darum, ob die Selbstliebe und die Bewunderung, die man von anderen erwartet, in normalen Maßen bleiben oder übersteigerte Formen entwickeln. Jeder Mensch macht Kränkungserfahrungen – immer dann, wenn ihm klar (gemacht) wird, dass sein Selbstbild nicht den Tatsachen entspricht. Nach Freud gibt es einen »allgemeinen Narzissmus«. Ein übersteigerter Narzissmus liegt vor, wenn jemand dauerhaft unter einer Diskrepanz zwischen idealisiertem, »grandiosem« Selbstbild und den tatsächlichen Gegebenheiten leidet. Dem Narzissten gelingt es nicht, ein Bild von sich selbst zu entwickeln, das gute und schlechte, starke und schwache Seiten einschließt. Stattdessen pflegt er ein falsches, überhöhtes Selbstbild, hinter dem sich ein verunsicherter Mensch verbirgt, der mehr als andere auf Anerkennung und Zustimmung von außen angewiesen ist. So bietet der Narzisst das Bild eines Menschen, der stets im Mittelpunkt stehen möchte, ständig gelobt werden muss, überempfindlich auf Kritik reagiert und nicht in der Lage ist, auf andere einzugehen. Narzisstische Menschen glauben, Macht über den Partner behalten zu müssen, und ziehen sich in dem Moment, in dem sie sich einlassen müssten, aus der Beziehung zurück. Von anderen werden sie als ablehnend, unerreichbar, ausweichend, aggressiv, sich abgrenzend und gefühlsmäßig wenig betroffen erlebt.
Der narzisstische Grundkonflikt besteht also in der Unvereinbarkeit von Grandiosität und Minderwertigkeit als zwei extreme Pole des Erlebens: Um der Minderwertigkeit zu entgehen, fantasiert der Narzisst sich so groß, wie ein Mensch gar nicht sein kann; damit ist der Absturz in das Gefühl der Minderwertigkeit – die Kränkung – vorprogrammiert. Der Narzisst ist bemüht, seine Mitmenschen nur die grandiosen Anteile seiner Persönlichkeit sehen zu lassen. Nahe Beziehungen werden dadurch zum Stressfaktor. Seine Umwelt erfasst meist nur den Stolz und die Eitelkeit des Narzissten, nicht aber das Leiden, das aus dem eben geschilderten Grundkonflikt erwächst.
Isabella M. glaubt, dass ihr Sohn Jan ein Narzisst ist: »Er brennt nicht für das, was er tut. Er glaubt, er sei grandios und erhofft sich den schnellen Erfolg, der ihm seiner Meinung nach zusteht, auch wenn er kaum etwas dafür tut. Er ist egoistisch und selbstbezogen. Alles dreht sich um ihn, alles bezieht er auf sich. Deshalb fehlt ihm auch das Gefühl, ja ich würde sogar sagen, das Interesse an anderen Menschen. Er ist sich selbst am nächsten.« Jan wiederum bestreitet gar nicht, dass er narzisstisch ist. Doch wie wurde er so?
Glaubt man Jan, so ist es die Schuld seiner Mutter, dass er kein realistisches Bild von sich selbst entwickeln konnte. Sie habe ihn nach der Trennung vom Vater – der damit als Vorbild für Jan ausfiel – als Partnerersatz missbraucht und damit in eine Rolle gedrängt, die mit seinen wahren Bedürfnissen nichts zu tun hatte. Nach acht Jahren Psychoanalyse glaubt Jan zu wissen, wovon er spricht: Durch den Kontaktabbruch habe er sich aus einer ödipalen Konstellation zu befreien versucht.
Isabella M. hat ihrerseits eine analytische Therapie gemacht, in der offenbar wurde, dass sie der Missbrauch durch den Vater traumatisiert hatte. »Die Psychoanalyse war richtig und gut. Drei Jahre ging ich einmal die Woche dorthin; wenn es ganz schlimm war, auch zweimal die Woche. Und dann hat sich etwas verändert. Schließlich wusste ich, das ist meine letzte Therapiestunde«, resümiert Isabella M. Bei Jan aber habe die achtjährige Psychoanalyse nichts bewirkt, findet sie. Er stecke in seiner verqueren Sicht der Dinge fest. Er bewege sich nicht, wolle nur hören, was in sein Weltbild passt, und gefalle sich womöglich gar in der Rolle des neurotischen Sensibelchens.
Vielleicht fällt es Jan tatsächlich schwer, eine andere Sichtweise auszuhalten, weil er dazu nicht selbstsicher genug ist, überlege ich. Die Bedeutung, die die psychoanalytische Therapie für ihn gehabt hat, unterschätzt seine Mutter aber wohl. Jan hat mir vor vielen Jahren schon erzählt, dass ihm die Psychoanalyse das Leben gerettet habe. Ich konfrontiere Isabella M. mit dieser Aussage, doch sie bleibt hart: »Ja, er war vielleicht mal suizidgefährdet. Aber seine Haltung zum Leben hat sich kaum verändert. So war er auch, bevor er seine Therapie gemacht hat.« Sie stützt ihre Argumentation durch ein Beispiel: Nach wie vor erzähle Jan jedem, dass seine Mutter Model und sein Vater Starfighterpilot
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