funny girl
nahm Sachen wahr – sie war eine gute Beobachterin – und stellte fest, dass die meisten dieser Möchtegern-Comedians komischer waren als vorher auf der Bühne. Sie sah auch, dass Comedians offenbar eine Menge tranken. Außerdem fiel ihr auf, dass Deniz weniger Interesse an ihr zeigte, wenn andere dabei waren.
Als der Pub zumachte, begleitete Deniz Azime nach Hause. Unterwegs sangen sie I Will Survive. Vor dem Haus verabschiedete er sich mit einem Klaps auf die Schulter und einer kurzen, freundschaftlichen Umarmung. ›Ist das alles?‹, fragte sie sich.
Vorsichtig öffnete sie die Haustür, glücklich wie seit langem nicht mehr. Jeder in diesem Haus voller Exzentriker schlief bereits – Exzentrik kann sehr anstrengend sein. Mit den Schuhen in der Hand stieg sie leise die Treppe hinauf; in die Mitte jeder Stufe hatte ihre Mutter einen glatten Stein gelegt, damit die Familie den Teppich dort nicht abnutzen konnte.
Als sie ins Bett stieg, spürte sie etwas Hartes unter dem Kissen – o nein, nicht schon wieder ein Nazar-Amulett, ein anatolischer Glücksbringer, der den bösen Blick abwehren sollte. Ihre Mutter steckte ihr oft einen solchen Talisman unter das Kopfkissen, in der Hoffnung, dass den geheimnisvollen Mächten in dem blauen Glas gelang, was ihr selbst bei aller Mutterliebe in den vergangenen drei Jahren nicht gelungen war – einen passenden Jungen für ihre schrecklich schwierige Tochter zu finden. Azime ließ das Amulett mit einem dumpfen Schlag auf den Boden plumpsen. Sie hatte zahlreiche Sorgen, so viele, dass die Rückseiten von tausend Rechnungen nicht gereicht hätten, sie aufzuschreiben, aber um die zu erklären und zu beheben, brauchte sie weder Flüche noch Amulette.
Am Morgen nahm Azime einen Weg zur Arbeit, der sie durch eine Siedlung mit Sozialwohnungen führte.
Was für ein Dreckloch. Von Anfang an hatten angehende Ganoven hier ihre ersten Gehversuche unternommen (Handtaschendiebe, Sozialhilfebetrüger, Dealerbanden, Autoknacker, Pöbel aller Art), aber inzwischen war es eine kleine Stadt für sich, in der viertausend Menschen wohnten, gestapelt in verschränkten Häuserblocks, solide gebauten Wohnungen, wenn auch von grässlichem Geschmack, alle um einen Platz gedrängt, in dessen Mitte Azime jetzt stehen blieb, den Blick höher und höher hinaufwandern ließ, bis in den achten Stock, wo er bei einer bestimmten Wohnung innehielt, an einem bestimmten Balkon, von dem unlängst eine Freundin gestoßen worden war.
Im Gedenken an diesen Sturz wanderte Azimes Blick nun zurück in die Tiefe, verfolgte den Weg ihrer (vermutlich schreienden) Freundin, eine einfache Linie, die an den Betonplatten zu Azimes Füßen endete. Nur eine einzige Platte war beschädigt, sie zeigte einen langen diagonalen Riss, da, wo, vermutete Azime, ein unglückliches Mädchen mit todbringender Geschwindigkeit aufgeprallt war. Menschenleib kontra Stein. Was war das für ein Geräusch gewesen, als all die schönen Knochen zerbarsten? Azime. Mit Tränen in den Augen. Zerbrochener Beton. Der Riss, genau an der Stelle, an der dieser herabgestürzte Leib gelegen hatte, auf der Seite, zusammengerollt, als schliefe sie bei einem Picknick, und wo Mitbewohner sie umringt, geschrien, gestikuliert, mit dem Finger nach oben gezeigt hatten und sich gegenseitig in die Arme gefallen waren, ehe sie sich entsetzt abgewandt und aufs Neue geschrien und den kleinen Kindern zugerufen hatten, sie sollten ja nicht kommen, sie sollten hinten bleiben, sollten bleiben, wo sie waren. Dann hatten sie auf die Polizei gewartet, die arme Polizei, die immer hinterher aufwischen musste, die kommen und Ordnung in dem aufgeregten Durcheinander schaffen würde, die Überreste wegräumen – denn mehr war von dem Mädchen jetzt nicht mehr da –, das gelbe Band spannen, das einen Tatort erst echt machte und zumindest für eine Weile den Eindruck erweckte, dass tatsächlich ermittelt wurde.
Aber was war geschehen? Wie Azime rasch herausfinden sollte, hatte man den Schuldigen nichts nachweisen können, und sie wohnten immer noch da, wo sie auch vorher gewohnt hatten, im achten Stock. Unerhört.
Wieder wanderte Azimes Blick nach oben, bis er bei dem Balkon verharrte, hinter dem die Familie des toten Mädchens wohnte. Sie hatte den Eindruck, dass jemand am Fenster stand und zu ihr herunterschaute; nur die Umrisse waren zu erkennen. Ein Mann? Eine Frau? Azime hatte die Stiefmutter nie gesehen, eine strengverschleierte Frau – klein, das war das Einzige,
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