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funny girl

funny girl

Titel: funny girl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anthony McCarten
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einigermaßen, aber es waren doch Wendungen dabei, die man nur in seinem Geburtsort kannte, die nur ein Bewohner seines Heimatdorfs zu deuten gewusst hätte. Aber es lief darauf hinaus, dass ihr Vater einfach nicht glauben konnte, dass sie diesen Satz aufgeschrieben hatte, in dem ja nichts anderes stehe, als dass sie ihn nicht respektiere, ihn nicht liebe, ihn nicht ehre, keinen Dank kenne für all das, was er für sie getan habe.
    »Baba, es ist doch nur ein Witz !«, beschwor sie ihn.
    Aber damit kam sie bei einem Mann wie Aristot nicht durch, der nun, um der größeren Wirkung willen, den Schutz der kurdischen Sprache verließ und in die noch nicht ganz gemeisterte Sprache seiner teuflischen Tochter wechselte.
    »Ein Witz? Was ist ein Witz? Deine Mutter? Dein Vater? Sind sie ein Witz?«
    »Nein, Baba. Nein!«
    »Wer dann? Was ist der Witz? Und wieso kommst du schon wieder zu spät? Immer bist du zu spät, was? Weil es besser ist, wenn man faul ist, nicht wahr? So viel besser. Kein Wunder. Kein Wunder, dass mir die Kunden wegbleiben. Kein Wunder, dass ich alles verliere, was ich aufgebaut habe. Kein Wunder, dass die Leute anderswo kaufen, ich weiß nicht wo, in dem verfluchten Internet wahrscheinlich. Wer weiß das schon. Eine faule, nichtsnutzige Tochter, mehr habe ich nicht! Die nicht mal einen Mann kriegt! Was ist das für eine Tochter? Ha! Kein Wunder, dass dich keiner will.«
    Damit war er weg.
    Azime ließ sich auf ihren Schreibtischstuhl sinken. Sie klickte den Ordner »Couchgarnituren« an und tippte: »Es ist nicht meine Schuld, dass ich keine Verantwortung übernehmen kann für das, was ich tue.«
    Wieder ein langer Tag, der sie verspottete. Sie wartete, dass die Zeiger der Uhr voranrückten. Sie holte Rechnungsbücher hervor, schlug sie auf, trug Zahlen ein. Wieder ein Tag voller Alltäglichkeit, eine Folter Sekunde um Sekunde, ihr ganz persönlicher Neunstunden-Alptraum, verbracht in einer schäbigen Zelle, an deren blanke Wände sie, damit sie anheimelnder wirkten, Fotos von ihren Freundinnen aus besseren Zeiten gehängt hatte, kleine quadratische Schnappschüsse aus schöneren Welten. Und im Vergleich zu dem Lächeln, das dort festgehalten war, diesen Porträts von Mädchen, die einander die Arme um die Schultern legten, mit einer Landungsbrücke oder Einkaufsstraße oder Touristenattraktion im Hintergrund, mit Händen, die nicht-alkoholische Cocktails in die Kamera hielten – wie elend war sie im Vergleich dazu. Nicht besser dran als der, der auf einem weiteren Bild zu sehen war, eins, das sie aus einer Zeitschrift ausgeschnitten hatte: ein Foto von einem Ochsen, der an einem Brunnen das Wasser förderte, mit dem Kopf in einem schweren Joch, ein Tier, das sein ganzes Leben damit zubrachte, dass es an einem baufälligen Brunnen im Kreis ging, mit dem kotverklebten Schwanz nach Fliegen schlug; das Wasser, das er förderte, war für das Dorf, aus dem ihre Eltern stammten, aber der Ochse bewegte sich nur, wenn man ihm mit einem Stock einen kleinen Schlag auf den Hintern gab. Das war Azime Gevaş: ein Ochse im Joch, eine Dienerin, die am besten arbeitete, wenn man ihr regelmäßig Stockhiebe gab.
    Sie ließ die Arbeit liegen, schloss ihr Handy an den Computer an, lud die Aufnahmen vom Morgen hoch und zog sie in einen Fotoordner. Wenn sie in dem Ordner jetzt die Vorschaubilder anklickte, öffneten sie sich zu voller Größe. Eines druckte sie gleich auf dem Farbdrucker aus, das von der Steinplatte mit dem Riss. Sie faltete es einmal und verstaute es sorgsam in ihrer Handtasche. Danach verbrachte sie ein paar Minuten mit dem Betrachten des anderen Bildes: dem von der schattenhaften Gestalt, die hinter der Glastür des Balkons im achten Stock zu ihr herunterblickte. Sie vergrößerte es, bis die Silhouette den ganzen Bildschirm füllte. Teils verbarg der grabsteingraue Himmel, der sich in der Scheibe spiegelte, die unscharfe Gestalt. Wie bedrohlich dieses Pixelmosaik wirkte, das genauso gut eine Wolke mit den Umrissen eines Menschen hätte sein können, in die sie menschliche Bosheit nur hineinprojizierte. Wenn es ein Mann war, dann konnte es nur der Vater oder der Bruder des toten Mädchens sein. Und wieso hatte der dort gestanden und ihr zugesehen, als sie die Aufnahme machte? Na, dann soll er eben zusehen, dachte Azime jetzt, in der Sicherheit ihrer Zelle im väterlichen Möbellager. Soll er es doch sehen und merken, dass da noch jemand ist, der nicht vergessen hat, was an diesem Ort geschehen ist.

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