Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
funny girl

funny girl

Titel: funny girl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anthony McCarten
Vom Netzwerk:
was man über sie sagen konnte, solange sie unter einem solchen Zelt steckte. Den Vater hatte sie allerdings ein paarmal gesehen, im Laufe der Jahre am Eingang zur Schule und natürlich bei der Beerdigung. Ein dickbäuchiger Mann. Immer kurz vor einem Wutausbruch. Trug weite Hemden, immer über der Hose. Ständig am Handy. Ein Großmaul mit breitem Akzent. Das Gegenteil von niedergeschlagen. Und die latente Gewalttätigkeit sah man ihm deutlich an. Wie konnte es sein, dass solche Leute frei herumlaufen durften, ungehindert ins Handy brüllen, auf ihren Balkon treten und die Aussicht genießen? Da oben wohnten Mörder! Und alle taten, als seien es ganz normale Menschen. Unglaublich! Azime und das tote Mädchen waren gleich alt gewesen – konnte jemand auch sie umbringen und ungeschoren davonkommen? War auch ihr Leben so wenig wert?
    Sie holte ihr Handy aus der Tasche. Richtete es nach oben und fotografierte den Balkon, und vielleicht beobachtete die Gestalt dort oben sie dabei – vielleicht konnte sie das Foto nachher am Bürocomputer vergrößern und erkennen, wer es war. Dann richtete sie das Objektiv nach unten. Machte ein Bild von der Betonplatte mit dem Riss. Dem Grabstein dieses Mädchens. Ihrem armseligen Gedenkstein.
    Aristot Gevaş las noch einmal die Worte auf der Rückseite einer Rechnung für eine Couchgarnitur, die eigentlich schon am Vortag hätte ausgeliefert werden sollen – er kannte die Handschrift der Verfasserin.
    ›Harte Arbeit mag sich langfristig auszahlen, aber Faulheit zahlt sich sofort aus.‹
    Was war bloß in seine Tochter gefahren, dass sie etwas so Schreckliches schrieb? Er wusste die Antwort. Sie verspottete ihn! Das war es. Sie machte sich über ihn lustig. Er blieb stehen, las den Satz noch einmal, dann ein drittes und ein viertes Mal, und mit jedem Durchgang wurde er wütender. Harte Arbeit ist jetzt etwas Schlechtes? Neuerdings ist Faulheit gut? Welcher xêvik würde so etwas sagen? Wer konnte es wagen, so etwas auch nur zu denken? Für einen Mann seiner Herkunft – einst (und vor noch gar nicht so langer Zeit) ein kurdischer Bauer in einem Land, das die Kurden verachtete, ein Mann, der allein durch harte Arbeit zu dem geworden war, was er jetzt war; der die Fesseln abgeworfen hatte, die andere ihm angelegt hatten, sich von den Zufällen seiner Geburt befreit hatte; ein Mann, der unlängst noch zu sich selbst gesagt hatte: ›Warum muss ich der Aristot Gevaş sein, den meine liebe Mutter zur Welt brachte, einer, dem die Türken ihren Stempel aufdrücken, wo ich doch die Kraft habe, mich aufzuraffen, und der Aristot Gevaş sein kann, der ich sein will?‹ Für einen so aufrechten, ehrlichen, hart arbeitenden, übermüdeten Mann, einen, der dafür alles gab, war die Vorstellung, dass Faulheit eine Tugend sein könne, abstoßend, empörend, widerwärtig!
    An diesem ominösen Morgen kam Azime, als hätte sie nicht schon genug angerichtet, auch noch zu spät zur Arbeit. Schon wieder zu spät. Aristot hingegen war immer schon zwei Stunden vor allen anderen im Laden und sechs Tage die Woche da, 51   Wochen im Jahr, und von seinen Angestellten und seiner Familie verlangte er schließlich nicht mehr, als dass sie pünktlich aufkreuzten.
    Als Azime in das kleine improvisierte Büro kam, fast eine Viertelstunde zu spät, stand er noch immer an ihrem Schreibtisch. Sie sah sofort, dass es Ärger geben würde.
    »Baba?«
    Er brüllte sie auf Kurdisch an und drosch mit der schlaffen Rechnung auf sie ein, harmlose kleine Flapp-flapp-flapp-flapps, und nur aus Reflex hob sie zum Schutz die Arme, als sei es nicht das Stück Papier, das sie verletzen könne, sondern der verletzte Ausdruck in den Augen ihres Vaters, ein Blick, den er von seinem eigenen Vater geerbt hatte, ein familientypisches Funkeln, das auch sie beherrschte, ein Erbstück in der langen Ahnenreihe der Gevaş’ wie ihr schwaches Herz, die Ballenzehen und die Tolpatschigkeit. Und als sie die Arme hob, tat sie es auch zum Schutz vor seinen Worten, denn aus diesem Mann, diesem Einwanderer, strömten uralte Vorwürfe nur so hervor, Warnungen, Flüche. Jetzt schlug er nicht mehr, er zeigte ihr streng mit dem Finger ins Gesicht. Brüllte etwas, dann schlug er sich selbst an die Brust und verzog das Gesicht, als ob er gleich weinen müsste. Er riss die Rechnung mit dem Lob der Faulheit in winzige Fetzen und warf sie ihr ins Gesicht. Das meiste, was ihr Vater in dieser Tirade brüllte, verstand sie; sie verstand seine Muttersprache

Weitere Kostenlose Bücher