funny girl
Umwelt darauf reagierte.
Der Laden lag in Tower Hamlets, einem Stadtteil, in dem mittlerweile mehr als 70 000 Muslime wohnten. Es gab jede Menge Bekleidungsgeschäfte, und in dem Laden, für den sie sich schließlich entschied, hatte sie eine große Zahl von Modellen zur Auswahl. Es gab Hidschabs, bis zur Hüfte oder bodenlang, ein- bis dreilagige Burkas sowie Niqabs, die das Gesicht halb oder ganz bedeckten. Sie wählte eine Burka für dreißig Pfund, ganz in Schwarz und aus leichtem Satin, die nur die Augen freiließ. Sie betrachtete sich im Spiegel der Umkleidekabine. Dann sagte sie der Verkäuferin, sie wolle den Schleier gleich anbehalten.
Was für ein seltsames Gefühl, so auf die Straße zu gehen, übermäßig geschützt, sich selbst und anderen fremd. Bizarr, wenn man nur durch einen schmalen Augenschlitz sehen konnte, wie ein Maschinengewehrschütze im Gefechtsstand, wenn Menschen plötzlich im Blickfeld auftauchten und ebenso unvermittelt wieder daraus verschwanden. Solange sie in Tower Hamlets war und mit dem Doppeldeckerbus zur nächsten U-Bahn-Haltestelle fuhr, erregte sie wenig Aufsehen, aber in der U-Bahn fiel sie schon sehr auf.
Aus den Blicken, die man ihr zuwarf, zog sie den Schluss, dass eine tiefverschleierte Frau für viele moderne Londoner ein Stein des Anstoßes war. Einige sahen sogar aus, als seien sie kurz davor, sie anzuschreien, ihr die Schuld am 11. September und am Krieg gegen den Terror zu geben.
Auf der Rückfahrt lernte Azime rasch, die Augen abzuwenden – wie viel provokanter ihr Blick auf andere wirken musste, wenn sie nichts als die Augen sehen konnten! –, doch wann immer sie verstohlen zu anderen Fahrgästen hinüberschielte, bemerkte sie, wie der eine oder andere sie anstarrte, abschätzend, kritisch, länger, als es das Gebot der Höflichkeit zuließ. Sie hörte, wie sie sich etwas zuflüsterten, und konnte deutlich erkennen, dass sie düstere Schlüsse über ihr Leben, ihre Beweggründe, ihre Einstellung zogen.
Als sie wieder auf der Straße war und so verhüllt durch Hackney ging, hielt sie durch ihren Fensterschlitz Ausschau nach einem Ort, wo sie ihre Burka abnehmen konnte. Weitere Experimente mussten warten, sie würde die Haltung der Briten gegenüber Muslimen und ihre eigenen Gefühle über das Leben unter dem Schleier noch weiter ergründen. Für heute hatte sie jedenfalls genug gesehen.
Ein Straßenverkäufer bot billiges elektronisches Zubehör feil, und Azime interessierte sich für ein kleines Diktiergerät, mit dem sie ihre Ideen für Auftritte aufzeichnen könnte. Es kostete nur zwölf Pfund, inklusive Batterien, und sie probierte es sofort aus: »Test, Test, Test.«
Auf dem Heimweg kam sie in der Wightman Road an dem italienischen Restaurant der Familie Giometti vorbei und traf dort auf Ricardo Giometti. Er stieg gerade vom Rad, löste die Fahrradklammern von den Hosenbeinen, kettete das Vorderrad an und stellte das Zahlenschloss ein. Ricardo, der Sohn des Restaurantinhabers, war mit dem toten Mädchen befreundet gewesen. Azime konnte sich nicht einmal mehr an ihren Vornamen erinnern! Seit der Beerdigung fragte sie sich, ob die Beziehung zu Ricardo wohl der Auslöser für ihren Tod gewesen war. Warum fragte sie Ricardo nicht einfach? Aber konnte sie das tun, so in diesem Aufzug! Doch dann dachte sie an Kirstens Worte: »Geht in die Tiefe! Analysiert!« Und an das Zitat von Flaubert: »Bei allem, was wir sehen, gibt es einen Teil, der unerforscht bleibt.«
»Hi.«
Er drehte sich um und starrte die Burka-Trägerin an, die ihn angesprochen hatte. »Was?«
Ricardo Giometti. In London geboren. Er hatte dieselbe Schule besucht wie Azime und Banu, nur eine Klasse höher. Azime kannte ihn flüchtig – schlaksig, gutaussehend, lässig, umgänglich. Sie hatten sich ein paarmal auf dem Schulhof unterhalten, als sie beide noch Schuluniform trugen. Und einmal hatte sie ihn mit dem Mädchen, das jetzt tot war, bei McDonald’s getroffen. Als plötzlich der Bruder des Mädchens aufgetaucht war, hatte Ricardo sogar den Arm um Azimes Schultern gelegt, um ihn glauben zu machen, dass er mit Azime verabredet war, nicht mit seiner Schwester. Azime war sich nicht sicher gewesen, ob er den Bruder wirklich hatte überzeugen können. Unter der Jacke trug Ricardo jetzt ein schwarzes Hemd und schwarze Hosen – seine Kellnerkluft.
»Ricardo? Ich bin’s, Azime.« Sie löste den Schleier und zeigte ihr Gesicht. »Azime. Hi. Aus der Schule. Du hast eine Freundin von mir
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