funny girl
lustig sein zu müssen.
Am Ende der Stunde gab Kirsten ein kurzes Feedback zu jedem Auftritt. Auch wenn es überwiegend eine Aufzählung von Fehlern war, bescheinigte sie den meisten Kursteilnehmern Fortschritte.
Azime holte ihren Block hervor, machte sich Notizen. Kirsten sagte, dass es bei einem Witz auf jedes Wort ankomme. »Keine überflüssigen Worte. Feilen, feilen, feilen. Wer zu viel sagt, tötet den Witz, macht ihn zu offensichtlich. Wenn ihr zu wenig sagt, versteht euch keiner. Kein Wort mehr als das absolute Minimum, gerade so viel, wie nötig ist, dass das Publikum im Geist den Sprung von A nach B schafft. Das Gehirn macht nämlich gerne Sprünge, es genießt die Bewegung, und dann erntet ihr einen Lacher.«
Zum Abschluss korrigierte sie ein paar von den Witzen der Kursteilnehmer und demonstrierte, wie sie mit weniger Worten pointierter wurden.
»Deniz? Eine Bemerkung zu dir.«
Er nickte bereits in Erwartung ihrer Kritik: »Nicht so viele Worte?«
»Weniger Porno.«
Die Kursteilnehmer lachten.
»In meinem Auftritt?«
»Da auch.«
Für Azime fand Kirsten lobende Worte und bescheinigte ihr einen außergewöhnlichen Start, aber sie ermunterte sie auch, noch mutiger zu werden. »Du warst lustig, aber du hast Witze über Dicke gemacht, und du bist nicht dick. Und du hast auch einen Witz über das Leben in London gemacht, aber nicht über dein eigenes Viertel. Ich glaube, ich weiß jetzt kaum mehr über dich als vor dem Auftritt. Mach es persönlicher und damit unverwechselbar. Es muss doch tausend Dinge geben, über die du – und nur du – reden kannst, Sachen, über die sonst keiner etwas weiß, über die keiner außer dir glaubwürdig reden kann. Was du heute Abend gemacht hast – das könnte jede junge Frau bringen. Ich will Azime hören. Klar? Sei mutig. Riskier was. Lass dich drauf ein. Bohre tiefer. Und denk dran, keiner von uns findet seine Stimme über Nacht. Suchet, so werdet ihr finden.« Sie klatschte in die Hände. »Das wär’s für heute. Wir sehen uns nächste Woche.«
Azime fühlte sich wie eine vollkommene Versagerin.
»Soll ich dich nach Hause fahren?«, bot Deniz an.
»Nein danke, mit einem Pornographen will ich nichts zu tun haben. Michelle Obama nackt! Wie konntest du nur! Ich nehm den Bus.« Sie umarmte ihn und ging zur Bushaltestelle.
» UNVERWECHSELBAR . «
Azime kaute am Ende ihres Stifts und blickte immer wieder durch die Vorhänge zum dreckig grauen Himmel, dann auf ihre Zimmerwand, an der jetzt ein Farbausdruck der Aufnahme von der gerissenen Betonplatte hing, des Fotos, das sie unterhalb des Blocks mit Sozialwohnungen gemacht hatte. Da, wo das Mädchen aufgeprallt war (und das war das Gegenteil von lustig), dann unterstrich sie das UNVERWECHSELBAR zum vielleicht fünften oder sechsten Mal. Anschließend zeichnete sie die fünfzehn Großbuchstaben nach, bis das Wort dicker und dicker auf dem Blatt stand, das ansonsten leer blieb. Hartnäckig leer. Lächerlich-lächerlich-leer. Was war unverwechselbar an ihr? Was? Irgendwas musste es doch geben.
Dann blätterte sie auf dem Block zurück zu der Liste, die sie ein paar Tage vorher angefangen hatte. Sie las sich die Punkte 1 bis 4 noch einmal durch, ihren Versuch, die Welt zu skizzieren, in der sie lebte, damit sie vielleicht als Quelle für komisches Material dienen konnte. Sie klickte auf den Knopf des Kugelschreibers, und nach einer Pause schrieb sie etwas:
5. Modernes England kaputtes England, Klassengegensätze, gute Manieren, besessen vom Zweiten Weltkrieg und dem Untergang des Empire, Kolonialherren jetzt zu ihrem Missfallen selbst kolonisiert, Unruhen.
6. Muslim, Bedrohung durch Terrorismus, 11. September, Islamfeindlichkeit, Rassismus.
7. Gewalt, Dealerbanden, Ungerechtigkeit, Ehrenmorde, Vater bringt eigene Tochter um, Riss in Betonplatte.
8. Fische zur Fußpflege.
9.
10.
Azime ließ sich auf ihr Bett zurücksinken, schloss die Augen und verschränkte die Arme vor der Brust, wo der wattierte BH dafür sorgte, dass sie nicht noch jungenhafter aussah als ohnehin schon. Dann öffnete sie wieder ein Auge und starrte auf das Foto von dem Riss in der Betonplatte.
Am nächsten Tag, nach der Arbeit, kaufte sie sich eine Burka.
Für den Kauf fuhr Azime ein paar Meilen in ein anderes Viertel, denn sie wollte nicht, dass sie jemand erkannte. Der Plan? Sie wollte ganz verschleiert nach Hause gehen. Sie hatte noch nie einen Schleier getragen, schon gar nicht einen Niqab, und sie wollte herausfinden, wie ihre
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