funny girl
lebt in so einem Land jeder in der Hoffnung, dass er nie in eine Situation kommt, in der er Zivilcourage zeigen muss.« Dann faltete sie die Serviette zusammen, schob sie in die Gesäßtasche ihrer Jeans und erinnerte sich, als sie wieder auf die gefährlichen Straßen hinaustrat, an einen alten Witz: »Wer Ruhe bewahrt, während rings um ihn das Chaos tobt, hat vermutlich nicht mitbekommen, was los ist.«
Zu Hause in der Geborgenheit ihres Zimmers griff sie nach dem Block, auf dem sie ihre Ideen notiert hatte, und schrieb: Burka – Niqab – Kopftuchverbot – Bikiniverbot – Che-Guevara-T-Shirtverbot – Männerverbot – Feiglingsverbot – Lügnerverbot – Bandenverbot – Mörderverbot – Eifersüchtige-Ehemänner-Verbot – Hmm, was noch? Vor ihrem inneren Auge erschien plötzlich Ricardos Gesicht, wie er bestritt, dass er mit dem toten Mädchen befreundet gewesen war, und wie ihm sogar die Erinnerung an sie jetzt zuwider war.
Nach dem Zähneputzen ging sie in die Küche, um ihrer Mutter gute Nacht zu sagen. Sabite war gerade dabei, ihr leckeres Brot für den Morgen zu backen. Azime bat ihre Mutter, ihr noch ein paar Heiratskandidaten zu präsentieren. Sabite fiel fast der Holzlöffel aus der Hand.
»Ich bin bereit, es noch einmal zu versuchen.«
In Wahrheit ging es ihr um weitere Feldstudien für ihren Auftritt. Noch ein paar Verabredungen mit Heiratskandidaten müssten doch wenigstens zu einer neuen Erkenntnis führen, die noch niemand vor ihr gewonnen hatte. Was erwarteten diese Männer, die auf die Anzeigen des Heiratsvermittlers antworteten, eigentlich von einer Ehefrau? Waren sie auf der Suche nach einer echten Partnerin? Oder wollten sie nur ein Besitztum, nicht viel anders als eine Couch, ein repräsentatives Ausstattungsstück für ihr Leben?
5
Am nächsten Tag erzählten alle Nachrichtensendungen die gleiche Geschichte: Wie jedes Ziel so ausgesucht worden war, dass ein Höchstmaß an Chaos entstand, wie und warum die Selbstmordattentäter bei der Auswahl der U-Bahnen und Busse dafür gesorgt hatten, dass die Anschläge in zwei koordinierten Wellen abliefen. Die Reportagen berichteten von der Explosion der ersten Bomben in der U-Bahn, dann, nach einer Pause, in den Bussen, ein gezielter Angriff gegen die Helfer. Heutzutage reichte es nicht mehr aus, unschuldige Menschen zu töten, dachte Azime, das Ziel war, die Tapferen zu töten oder zu verstümmeln.
Sie sah den ersten Fernsehbericht über die Bombenanschläge durch das Fenster des Pig and Whistle, wohin sie und ihr Vater und die ganze Belegschaft von Gevaş’ Orientmöbel – einfach spitze! Gegründet 1986 gegangen waren, um das Geschehen gemeinsam von der Straße aus zu verfolgen. Anschließend ging jeder für sich nach Hause (der Laden würde an diesem Tag nicht wieder aufmachen) und sah sich die Nachrichten auf dem eigenen Fernseher an.
Immer wieder und mit immer mehr Einzelheiten erzählten die Fernsehkanäle die Geschichte: Wie die erste Bombe um 8.50 Uhr in der Circle Line Richtung Aldgate explodierte; wie sich der wie üblich vollbesetzte Zug von einem Augenblick zum nächsten in ein Inferno verwandelte, ein fremdes Land, eine alternative Realität. Wie die Überlebenden über die Toten und Zerfleischten und Sterbenden stolperten und in einer Prozession von staubbedeckten Gespenstern durch die finsteren Tunnel irrten, im Vertrauen darauf, dass es irgendwo auf der Welt noch unverletzte Menschen gab, die ihnen – irgendwann, irgendwie – helfen konnten. Sekunden später, in einer anderen U-Bahn, eine zweite Bombe, als der Zug gerade von der Edgware Road in Richtung Paddington abfuhr. Mohammad Sidique Khan tat genau das, was er vor seiner Videokamera angekündigt hatte. Die Explosion zerfetzte zwei mit Berufspendlern vollbesetzte Waggons. Und dann ein dritter Zug, auf der Piccadilly Line, kurz vor dem Halt am Russell Square. Ein neunzehnjähriger Jamaikaner rief seine eigene Telefonnummer an. Sein Rucksack flog in die Luft. Eine Stunde später, nach einer Stunde des puren Chaos und der unbeantworteten Fragen, einer Stunde, in der ganz normale Bürger ihre Feigheit überwanden und zu Helden wurden, hielt ein Doppeldeckerbus der Linie 30, voll mit Evakuierten, zum allerletzten Mal; die Explosion riss das Dach ab, Metalltrümmer landeten auf der gegenüberliegenden Straßenseite vor den Türen der British Medical Association, aus denen wenig später Ärzte und Krankenschwestern herausstürzten, um die Sterbenden und die
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