funny girl
schreienden Verletzten zu versorgen. Wer noch laufen konnte, lief. Wer anderen helfen konnte, half. Es war eine postapokalyptische Szene wie im Buch der Offenbarung: »Und das Tier, das aus dem Abgrund aufsteiget, wird mit ihnen einen Streit halten und wird sie überwinden und wird sie töten. Und ihre Leichname werden liegen auf der Gasse der großen Stadt…«
Zu Hause saß Azime neben den anderen Familienmitgliedern auf dem Sofa und verfolgte, wie die Zahl der geschätzten Todesopfer immer wieder stieg und fiel, stieg und fiel. Sie wartete darauf zu erfahren, wer die Terroristen waren. Bald gab es erste Informationen: Die meisten waren Einzelgänger, der Jüngste achtzehn, der Älteste dreißig. Eine labile Mischung aus Düsternis und Angst. Für die Nachbarn waren sie »unauffällige junge Männer, fast schon unsichtbar«. Aristot nannte sie »Nichtsnutze«. Ja, dachte Azime, Nichtsnutze, die erkannten, dass sie doch zu etwas nutze sein konnten: Massenmord. Auf der Suche nach einer Art postumer Berühmtheit à la Großbritannien sucht das Supertalent und in der Hoffnung, durch den Tod ein öffentliches Leben zu gewinnen, hatten sie Abschiedsvideos gedreht, letzte Briefe geschrieben, unverständliche Dinge gesagt, deren Sinn ihren Familien erst viel später aufging. Sie hatten auf ihren ordentlich gemachten Betten persönliche Dinge ausgebreitet, ein Memento mori, dazu bestimmt, von ihren Biographen und der Polizei gefunden zu werden. Azime stellte sich vor, wie sie ihre Jacken zugeknöpft, die tödlichen Rucksäcke geschultert hatten und in den kühlen Sommermorgen hinausgetreten waren, ein Rettungsteam für kranke, längst im Sterben liegende Ideen. Auf dem Familiensofa war Azimes erster, zweiter, zehnter und hundertster Gedanke: ›Das ist schlecht. Das ist schlecht für alle, wirklich alle. Schlechter könnte es gar nicht sein.‹
Deniz rief sie auf dem Handy an und sagte: » Wir müssen was unternehmen. Und du wirst auch mitmachen.«
Wütend über die im Namen ihrer Religion begangenen Verbrechen, wütend über den Schaden, den diese Anschläge ihrer Religion zugefügt hatten, erklärte Deniz Azime fünf Tage später in einem Café, er und seine Freunde würden einen Protest organisieren, eine »unüberhörbare Botschaft« – und sie würden allen klarmachen, dass diese Attentäter nicht für den Islam standen. Diese Botschaft sollte sich nicht nur an die allgemeine Öffentlichkeit richten, sondern zugleich auch ihren muslimischen Brüdern und Schwestern die Augen dafür öffnen, dass es sich hier um eine einmalige Gelegenheit handelte, Solidarität mit den Opfern zu zeigen; dass »wir alle zusammen den Arsch hochkriegen und aus Großbritannien ein besseres Land machen müssen, verstehst du? Wir machen einen großen Comedy-Gig. Motto: Muslimische Comedians gegen die Anschläge. Und du bist mit dabei. Auf dem Programm steht dein Name.«
»Mein Name?«
»Es wird Zeit, dass wir auch mal eine Schwester mit im Programm haben. Klar. Das ist eine einmalige Gelegenheit, Azi. So eine Chance kriegt man nur einmal im Leben. Muslime müssen jetzt für alle stehen. Wir müssen uns zu Wort melden, wir müssen aufstehen, verstehst du, wir müssen für jede Kultur stehen, jede Rasse, jeden Glauben. Wir müssen so was wie Vorbilder sein. Wir müssen die Proteste anführen, nicht einfach nur sagen, das alles sei nicht unsere Schuld. Denn wir alle werden darunter zu leiden haben. Das weißt du auch. Sie werden uns die Schuld in die Schuhe schieben. Die Nicht-Muslime, die werden uns verfolgen, dich, mich, alle. Aber das ist nicht das Land, das wir wollen. Verdammt, das ist nicht mal das Land, in dem wir leben.
Verstehst du? Deshalb machen wir diese Veranstaltung. Zeigen, dass wir alle gegen Gewalt sind, dass uns das alle ankotzt. Ich mache mit, Lano hat zehn Minuten und heizt das Publikum an. Ari ist dabei. Wir haben Nasdar. Drei, vier andere. Wir überrumpeln die Leute mit unserer Botschaft aus Mut und Hoffnung und Verantwortung und Gemeinschaft. Ein Dschihad der Liebe. Verstehst du?«
»Das kann ich nicht machen.«
»Wir haben Rajan, Pankisar, Quito macht zehn Minuten, und wir brauchen eine Schwester. Das ist unsere Botschaft. Alle zusammen.«
»Ich kann das nicht. Und ich mache es nicht.«
»Doch, das machst du, Azi. Wir brauchen dich. Dein Land braucht dich. Sonst schlag ich dir den Schädel ein. Du bist definitiv dabei.«
»Ich habe kein Material.«
»Ich auch nicht!«
Azime musste lachen. Am Ende musste man
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