funny girl
Traditionen hoch, aufgehoben in einem Netzwerk, in dem jeder jeden unterstützte, gestärkt durch Blutsbande. Eine Generation später war der Schmerz über den Verlust der Heimat verebbt. Verwitwete Ehefrauen konnten bei den Familien ihrer Männer leben, wenn sie bereit waren, einen Bruder des toten Ehemannes zu heiraten. Wo immer das Netz Schaden nahm, wurde es unverzüglich geflickt. In Green Lanes, Nordlondon, rief niemand den Polizeinotruf an. Streitigkeiten wurden nach eigenen Gesetzen beigelegt. Sabite dachte an die Traditionen ihrer Gemeinde, wonach Kinder in Demut heranwuchsen, ihren Eltern vertrauten und die Regeln des Islam beherzigten, um ihr eigenes neues Leben in London auf dem Fundament des Islam aufzubauen, so dass nichts schiefgehen konnte.
Und dann kamen auf einmal diese Witze.
Witze! Gelächter! Fratzenschneiden! Dumme Bemerkungen! Das zerstörte alles. Alles! Eine Tochter, die sich auf die Bühne stellte und fremde Leute fragte, wie viele muslimische Mütter man braucht, um eine Glühbirne zu wechseln, wo doch jedermann weiß, dass dazu nur eine einzige notwendig ist! Schwachsinnige, erfundene Geschichten, allesamt erstunken und erlogen, die sie den Leuten hier erzählte, nur um Idioten zum Lachen zu bringen. Witze, die alles kaputtmachten. Die ganze Arbeit. Die ganze sorgfältige Planung. Das ganze Lauschen auf die geflüsterten Ratschlüsse Allahs. Das ganze Blut, das im Namen der Familie am Ufer des Van-Sees vergossen worden war. Sabites eigene Tochter besudelte die Familienehre. Mit Witzen! Diese verfluchten Witze. Von einem Dach so hoch wie ein Minarett wollte Sabite der verdorbenen Welt zurufen: Ein Huhn bleibt auf der Straßenseite, auf der es ist!
Später, auf dem Parkplatz der Moschee, saß Azime neben Döndü im kleinen Auto der Familie und beobachtete, wie Sabite auf den Stufen der Moschee eindringlich mit dem Ehevermittler sprach. Azime verfolgte genau, wie der Vermittler auf das Flehen, die Gesten ihrer Mutter mit einem langsamen, zweifelnden Kopfschütteln antwortete.
»Alle haben dich in der Zeitung gesehen«, sagte Döndü. »Alle reden über dich, Azi. Wow – so muss das sein, wenn man schwul ist.«
Döndü trug nach wie vor ihr Kopftuch; noch zwei Wochen, bevor sie wieder ohne Hidschab nach draußen konnte.
Als Sabite einstieg, schlug sie die Tür mit Wucht zu. »Er sagt, er versucht es. Noch ein Mal. Ein allerletztes Mal. Aber er sagt, jetzt hat er nur noch… jetzt hat er nur noch den Bodensatz in seinem Fass.«
Und so hatte Sabite nur wenig Hoffnung, als sie drei Tage später ihre ältere Tochter zum Rendezvous mit einem Heiratskandidaten losschickte, zu dem nur eine Familie, die bereit war, bis zum Boden des Fasses zu schöpfen, ihre Tochter geschickt hätte.
An der Tür zum türkischen Café sah Azime ihren Verehrer schon an einem der hinteren Tische warten. Sie ging geradewegs auf ihn zu, so unsexy wie möglich. Sie trug ein konservatives Kleid, hatte sich aber geweigert, ein Kopftuch umzubinden; nur zu einer Halskette, einem Geschenk ihrer Mutter, hatte sie sich bereit erklärt, einer Kette mit einem kleinen blauen Anhänger, dessen Glasauge den bösen Blick bannte – denn in dessen Anwesenheit würde ihr das Glück endlich hold sein. Sie setzte sich ohne große Umstände.
»Hi.«
»Hallo.«
Als sie ihre Handtasche auf den Boden stellte, sah sie den Mann zum ersten Mal genauer an und bemerkte zu ihrer Überraschung, dass er nicht nur gut aussah, sondern dass er jung war, vielleicht nur ein oder zwei Jahre älter als sie. Unmerklich – unmerklich vielleicht für ihn, aber nicht für sie – straffte sie den Rücken.
»Tut mir leid, dass ich zu spät bin.«
»Bist du das?«
»Zehn Minuten. Tut mir leid.«
Er lächelte sie an, faltete die Hände, beugte sich vor und schien durchaus erfreut.
»Der Bus«, erklärte Azime.
»Der Bus?«
»Ja.«
»Der Bus hatte Verspätung?«, fragte er.
»Daher die zehn Minuten.«
»Ah. Ja. Verstehe.«
»Also. Mustaf?«
Wieder lächelte er. Schüttelte dabei den Kopf. Er wirkte noch erfreuter als zuvor. »Nein. Emin. Ich bin Emin.«
»Und… äh… wo ist Mustaf?«
»Keine Ahnung. Wie schön. Vielleicht ist er zehn Minuten zu spät. Du weißt ja, wie das mit den Bussen ist. Ich bin hier verabredet, aber wenn Mustaf nicht auftaucht und du mit uns essen willst, dann bist du herzlich willkommen.«
Ganz vorsichtig blickte sich Azime im Lokal um und sah über die Schulter, dass direkt hinter ihr, aber ein paar Tische
Weitere Kostenlose Bücher