funny girl
näher kam, gab der Bursche seine Startversuche auf, stellte das Fahrzeug in aller Seelenruhe ab und ging weiter die Straße hinunter, wobei er lässig mit dem Schlüsselbund jonglierte. Keinerlei Anzeichen von Panik in seinem Verhalten. Schuldbewusstes Verhalten sah anders aus. Der Mann, der immer noch einen Sturzhelm auf dem Kopf trug, würde vermutlich jeden Augenblick in einem Hauseingang verschwinden. Aber als er das nicht tat, nahm Aristot die Verfolgung auf und beschleunigte seine Schritte. Als er selbst auf die Höhe des Gefährts kam, einem alten Motorroller mit 50 Kubikzentimetern, bog der Fahrer gerade um die Ecke und verschwand.
Das konnte unmöglich der Mann sein, schloss Aristot. Nein, der perverse Postzusteller war ihm entwischt; er musste vom Haus der Familie Gevaş aus blitzschnell in die andere Richtung gelaufen sein. Das Gefährt war einfach nur ein alter Motorroller. Aber irgendetwas stimmte nicht. Nur was? Aristot kam nicht drauf. Na, egal. Er machte sich auf den Heimweg, überzeugt, dass er gescheitert war; doch nach zehn Schritten blieb er stehen. Er kehrte noch einmal um und musterte das Fahrzeug erneut, bis ihm schließlich aufging, was daran nicht stimmte. Es hatte kein Nummernschild. Und wer fuhr einen Motorroller ohne Nummernschild? Ein Verbrecher. Dieser Motorroller gehörte mit größter Sicherheit dem Absender des Briefs. Es passte alles zusammen. Als das Ding nicht angesprungen war und der Mann den unverkennbar muslimisch gekleideten Aristot näher kommen sah, hatte er begriffen, dass er womöglich geschnappt würde. Deshalb hatte er den Motorroller einfach stehen lassen, darauf geachtet, dass er dabei ruhig wirkte, und wohl darauf vertraut, dass Aristot das fehlende Nummernschild nicht bemerken würde. Aber sein Plan war nicht aufgegangen. Aristot war ein aufmerksamer Beobachter. Welche Hinweise konnte dieses Fahrzeug noch auf die Identität seines Besitzers geben? Aristot packte den Roller und schob ihn langsam nach Hause.
Jetzt, in der Küche, berichtete Aristot seiner Tochter von diesen Vorfällen und verlangte, dass sie ihm alles sagte.
»Alles! Morddrohungen? Was noch? Was gibt es sonst noch, wovon ich nichts weiß? Was hast du getan, um die Aufmerksamkeit eines Mörders auf dich zu ziehen? Sag es mir. Alles. Jetzt sofort.«
Aber mit der Wahrheit ist es wie mit einer Fremdsprache: Nur durch regelmäßige Praxis wird man gut. Und Azime hatte ihre wahren Gefühle schon seit längerer Zeit für sich behalten, so dass sie um ehrliche Worte ringen musste. Sie wusste, was sie ihren Eltern sagen wollte, aber ihr fehlten die Worte, Worte, die sie wirklich verstehen würden.
Sie begann mit ihrem ersten Auftritt als Profi. Dann berichtete sie von ihrer heimlichen Freundschaft mit Deniz. Und noch bevor sie ihre Eltern aus ihrer Verwirrung erretten konnte, erzählte sie von dem schrecklichen Angriff auf Deniz’ Wagen und allem, was darauf gefolgt war. All dem lauschten ihre Eltern mit zunehmender Wut, nicht in erster Linie über das wenige, was sie verstanden, sondern über das viele, was ihnen unverständlich blieb.
Von so viel Englisch erschöpft, suchten Aristot und Sabite Zuflucht im kurdischen Dialekt ihrer Jugend. Sie verständigten sich mit den energischen Handbewegungen, die seit tausend Jahren zu ihrer Muttersprache gehörten – Fäuste geballt, Fäuste geöffnet, Handflächen aneinandergelegt, Fingerspitzen aneinandergelegt, Hände als Messer, als Pfeil, als Bürste, als Axt; an die Ohren gelegt als Ohrschützer, als Kappe, als zehnfingrigen Schleier –, und so entwickelten sie in einer Oper aus Gesten ihren Plan.
Es wurde mehr oder weniger beschlossen, dass der Fall Azime intern gelöst werden müsse. Keine Polizei. Die Lösung musste aus der kurdischen Gemeinde kommen, die alten Stammes- und Familienbeziehungen mussten sie herbeiführen. Die ersten Anrufe gingen an Raza und Omar, die fast millionenschweren Autohändlerneffen, die als Generäle ihren Dienst in dieser Schlacht gegen die Kräfte tun würden, die das Leben einer Gevaş bedrohten. Als Nächstes würde der Familienrat tagen.
In der Zwischenzeit sollte Azime noch einmal von vorn anfangen, alles von Anfang an erzählen, im Detail und in einer viel besseren Sprache: ihnen erzählen, wie sie es geschafft hatte, in so kurzer Zeit eine solche Katastrophe aus ihrem Leben zu machen.
Das Treffen fand am nächsten Morgen statt. Omar und Raza lauschten aufmerksam und nickten; in den offenen Kragen ihrer Oberhemden
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