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Furor

Furor

Titel: Furor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus C. Schulte von Drach
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Zwischen den einzelnen Stockwerken änderte die Treppe an jedem Absatz ihre Richtung um 180 Grad. Es befanden sich dort tiefe Nischen, in die kaum Licht fiel, düstere Orte, an denen sich der Staub sammelte. Sie hatten Sebastian schon als Kind fasziniert, als er mit seinem Vater das erste Mal hier entlanggekommen war, weil der Fahrstuhl nicht funktioniert hatte.
    Die etwa zwei Meter tiefen Nischen waren genau das, was Kinder anzieht und zugleich erschreckt. Orte zum Verstecken, an denen sich aber auch Unheimliches verbergen mochte, der Schwarze Mann oder eines der Monster, die sonst im Dunkeln unter dem Kinderbett hausen. In der grauen Betonwand amEnde jeder Nische befand sich die Mündung eines Lüftungsschachts. Ein rundes Loch, vielleicht vierzig Zentimeter im Durchmesser, über dem im stetigen Luftzug jalousieartige Aluminiumleisten leise klapperten. Im Wind schwebten Spinnweben und Staubfäden, die von den Wänden und der Decke hingen.
    Es fiel leicht, sich vorzustellen, dass hinter den Lüftungsabdeckungen etwas lebte und nur darauf wartete, dass sich jemand zu nahe an die Öffnung heranwagte. Und irgendwo in einer dunklen Kammer tief im Röhrensystem wartete dann das Ende in einem Kokon.
    Sebastian hatte sich vorgenommen, irgendwann einmal in dieses dunkle Reich einzudringen, in diese Röhren hineinzukriechen wie eine Ameise in das Tunnelsystem eines fremden, verlassenen Ameisenhügels. Er wusste sogar schon, wo er einsteigen würde. Auf dem Absatz zwischen dem zweiten und dritten Untergeschoss hing der Rahmen der Abdeckung nur noch lose in seiner Halterung. Es wäre kein Problem, sie ganz zu entfernen.
    Die dicken Metalltüren, die das Treppenhaus mit den einzelnen Etagen verbanden, waren extrem schwergängig. Man musste sie mit der Schulter aufstemmen. Als er die Tür zum dritten Untergeschoss aufdrückte, schloss er die Augen in Erwartung der dahinter liegenden Helligkeit. Als er sie langsam wieder öffnete, stand er vor Blumenthau. Der Alte schüttelte ihm die Hand. Dann humpelte er mit steifen Beinen traurig hinüber zu seiner Loge. Der hagere Mann betreute die Anlagen im Zentrum und verwaltete die Erinnerungsfilme. Meist saß er in seiner Kabine wie ein Pförtner, schaute sich Talkshows im Fernsehen an oder löste Kreuzworträtsel. Streng genommen war er tatsächlich ein Pförtner, denn jeder, der in das Zentrum hineinwollte, kam an der Glasfront der Kabine vorbei und musste sich bei ihm anmelden. Blumenthau öffnete von seinemPlatz aus die dicke Stahltür, die den Zugang zu den Anlagen versperrte. Der grauhaarige Alte war ein Relikt aus der Vergangenheit von Sebastians Vater. Christian Raabe hatte dafür gesorgt, dass er hier einer sinnvollen Beschäftigung nachgehen konnte. Andernorts wäre ein Mann seines Alters längst in den Ruhestand geschickt worden. Und Sebastian dachte, er hätte Blumenthau eigentlich fast ebenso Beileid wünschen können wie der ihm. Der alte Mann litt ganz offensichtlich schwer unter dieser Tragödie.
    Blumenthau schloss seine Loge auf und setzte sich zurück an seinen Platz. Vermutlich hatte er im zweiten Untergeschoss ein Bedürfnis gestillt und war mit dem Fahrstuhl heruntergekommen. Hier unten gab es keine Toiletten.
    Während er Sebastian zunickte, gab der Alte den Code ein, mit dem die Stahltür entriegelt wurde. Sie öffnete sich knarrend. Sebastian wusste, dass niemand außer dem Alten den wöchentlich wechselnden Code kannte, mit dem man ins Zentrum gelangte. Aber Sebastian war mit fünf oder sechs Jahren überall im Institut herumgestromert, hatte häufig auch Blumenthau besucht und auf seinem Schoß gesessen, während der damals schon nicht mehr junge Pförtner die Stahltür öffnete. Sebastian hatte sich einige der Zahlen gemerkt, spielerisch, nicht um an die Kombinationen zu kommen. Und dann hatte er irgendwann eher zufällig festgestellt, dass diese Zahlen immer mit den Lottozahlen der Vorwoche übereinstimmten. Später hatte er diese Beobachtung überprüft und abends, wenn Blumenthau schon lange gegangen war, die Tür zum Zentrum geöffnet. Blumenthaus Art, den Code zu bestimmen, hatte sich seit damals nicht geändert. Wie viele alte Leute blieb er seinen Gewohnheiten treu, so dass Sebastian jederzeit ins Zentrum gelangen konnte, auch wenn der Alte nicht an seinem Platz saß.
    Ein grünes Licht blinkte an der Decke über der Tür, die sichjetzt leicht nach innen drücken ließ. Sebastian trat ein in die Kathedrale der Erinnerungen, wie er das Zentrum für sich

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