Furor
nannte. Was hier vor ihm lag, war einzigartig in der Welt. Während die Tür hinter Sebastian wieder ins Schloss fiel, flammten brummend die Deckenlampen im Gang vor ihm auf, eine nach der anderen. Zu Sebastians Rechter mündete eine Tür, hinter der sich die Bibliothek befand. Hier ruhten die Erinnerungen all derjenigen, die sich bereit gefunden hatten, ihren Gedächtnisinhalt abspeichern zu lassen, oder von jenen, die so wichtig und interessant erschienen waren, dass die Prozedur auch ohne ihre vorherige Einwilligung – im Namen des öffentlichen Interesses – durchgeführt worden war.
Die Namen von Wissenschaftlern und Politikern, Künstlern, aber auch von Mordopfern und potenziellen Mördern fanden sich auf den Etiketten der CDs, die hier aufbewahrt wurden und deren Inhalt man sich hier im Zentrum in sein eigenes Gehirn übertragen lassen konnte. Für Sebastian standen allerdings nur Filme zur Verfügung, die älter als drei Jahre waren. Diese Aufnahmen waren unscharf und beinhalteten vor allem akustische Erinnerungen. An Gedächtnisaufnahmen jüngeren Datums, die dank verbesserter Technik erheblich klarer waren, kam man nur mithilfe eines weiteren Codes, der dem wissenschaftlichen Personal und den höheren Semestern vorbehalten war.
Die Regelung war eingeführt worden, nachdem man festgestellt hatte, dass Menschen, die nicht genügend vorbereitet waren, die eigenen und die fremden Erinnerungen später nicht mehr eindeutig auseinander halten konnten.
Bevor Sebastian die Bibliothek betrat, schaltete er sein Handy aus. Das Gerät funktionierte hier unten zwar, da das hohe Institutsgebäude selbst Knotenpunkt eines Mobilfunknetzes war. Aber der Empfang war schlecht, und bei dem, was er jetzt vorhatte, wollte er ungestört sein. In der Bibliothekfand er sich zwischen Metallregalen wieder, die bis unter die Decke mit den schmalen, hochkant aufgereihten Kunststoffhüllen von zehn Zentimetern Kantenlänge aufgefüllt waren. In dem kahlen und kühlen Raum waren die Erinnerungsfilme archiviert, chronologisch und nach dem Typus des Toten.
Sebastian ging zum Ende des ersten Regals. Dort standen die letzten noch mit der alten Technik aufgenommenen Filme. Bei einem früheren Besuch in der Bibliothek hatte er einen Namen auf der Liste der Gedächtnisspender entdeckt, der ihn interessierte.
Es handelte sich um einen zeitgenössischen Popstar, der mit seiner Musik reich geworden war. Da in den meisten frei zugänglichen Filmen die akustischen Erinnerungen dominierten, versprach Sebastian sich von einem solchen Band am ehesten ein befriedigendes Erlebnis. Wer weiß, dachte er, vielleicht steckt darin ja eine wunderbare, vom Komponisten vor seinem Tode nicht mehr zu Papier gebrachte Melodie, die sich verkaufen lässt.
Er hatte den richtigen Film schnell gefunden und verließ die Bibliothek.
Das Ende des Ganges öffnete sich zu einer kleinen Halle mit zwei Kabinen, in denen sich die Gedächtniscomputer befanden. Sebastian betrat eine der Kabinen und zog die Tür hinter sich zu. Er warf den Film auf diese Kombination aus lederner Krankenliege und Zahnarztstuhl, die den größten Teil des Raumes einnahm. Am Fußende befand sich eine Rolle mit Papier, das über die Sitzfläche gezogen wurde. Es sollte das Leder vor dem Schweiß schützen, der einem hier schnell ausbrach, da der starke Rechner eine große Hitze ausstrahlte. Das Kopfende des Sessels bestand aus einer Art Helm, der den Kopf über der Stirn und den Ohren frei ließ. In der Wand dahinter gähnte eine Öffnung von dreißig Zentimetern Durchmesser, aus deren Metallrand etliche dünne Nadelspitzen nach innenragten. Sebastian fand, dass die Anlage aussah wie ein auf Hochglanz poliertes mittelalterliches Folterinstrument.
Er aktivierte den in die Wand integrierten Rechner. Der Bildschirm erwachte zum Leben und fragte nach der Codekarte. Sebastian steckte sie in den Schlitz. Der Computer erhielt nun die Daten von Sebastians Kopf, die Dicke seiner Kopfhaut und Schädelknochen sowie die Position der relevanten Hirnregionen, besonders des Sulcus principalis, die auf der Karte gespeichert waren. Dann führte Sebastian die CD in den senkrechten Spalt in der Wand neben der Konsole ein. Nach zwei Sekunden meldete der PC seine Bereitschaft.
Sebastian legte sich in den Sessel. Er schob den Kopf sacht in den Helm und wunderte sich einmal mehr, wie weich der Druck war, den er auf Wangenknochen und Jochbeinen spürte, als die Helmhalterung seinen Schädel fixierte. Er konnte
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