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Furor

Furor

Titel: Furor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus C. Schulte von Drach
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jetzt nicht mal mehr nicken. Die Lehnen des Sessels schmiegten sich perfekt an die Unterarme an. Unter seiner linken Hand war der kleine Hebel, den er jetzt umstellte. Langsam kippte der Sessel nach hinten, und der Helm mit Sebastians fixiertem Kopf fuhr in die mit Nadeln gespickte Öffnung, so dass der obere Teil seines Schädels in der Wand verschwand. Er wusste, dass die Nadeln, über die das fremde Gedächtnis in sein Gehirn übertragen würde, sich nun auf seine Kopfhaut zubewegten. Wenn alle Daten stimmten, würden sie den Bruchteil eines Millimeters über der Haut stehen bleiben. Während er das Summen der kleinen Elektromotoren hörte, mit denen die Nadeln bewegt wurden, hoffte er, dass die Maschine perfekt funktionierte. Sollte sie außer Kontrolle geraten, wäre er der Nächste, dessen Erinnerungen abgespeichert werden könnten. Aber mit dem Hebel an der Lehne hatte er immerhin einen Notschalter in der Hand: Ein leichter Druck, und der Vorgang wäre beendet. Und auch der Ruf Halt würde die Maschine stoppen.
    Die rechte Hand legte Sebastian um den Spielball, eine Kugel, die zur Hälfte aus der Lehne herausragte, und um die herum Schalter angeordnet waren, die sich mit den Fingern bequem bedienen ließen. Eine leichte Bewegung der Hand drehte die Kugel und bestimmte die Feinposition der Nadeln. Hatte er den Eindruck, die Position wäre vielversprechend, so konnte er die Kugel mit einem Druck des Daumens auf einen Knopf fixieren. Ein weiterer Druck, und sie wäre wieder frei. Sebastian schloss die Augen und startete die Übertragung.
    Zuerst spürte er nur ein Kribbeln auf der Kopfhaut. Eigentlich gab es dieses Kribbeln nicht. Das behaupteten zumindest die Ingenieure und Techniker, Physiker und Mediziner. Und sie erklärten damit fast alle zu Idioten, die jemals in den Helmen gesteckt hatten. Denn fast jeder, der die Anlage benutzte, kannte dieses Kribbeln. Und doch war es weder mit Messgeräten zu bestimmen, noch konnte man erklären, wie dieses Kribbeln auf der Kopfhaut ausgelöst wurde.
    Jetzt war alles dunkel. Und es blieb dunkel. Ganz sachte bewegte Sebastian den Spielball mit der Rechten. Niemand hätte an den Metallnadeln eine Veränderung bemerken können, und doch bewegten sie sich weit genug, dass die Reize in Sebastians Gehirn wanderten.
    Schwarz. Immer noch schwarz. Und immer noch . . . halt. Er arretierte den Ball mit dem Daumen. Da war etwas. Es war das Gefühl, das sich einstellt, wenn man etwas weiß, jedoch nicht darauf kommt. Es sitzt da irgendwo eingeklemmt in den grauen Windungen und sperrt sich, während man an ihm zerrt und zieht. Allerdings wusste Sebastian nicht, an was er sich da nicht erinnern konnte. Schließlich war das hier nicht seine Erinnerung.
    Die Impulse jagten ein Reizmuster nach dem anderen durch sein Gehirn. Dann sah er etwas. Einige Male wiederholte sichder Eindruck, das Schwarz vor seinen Augen wäre kein Schwarz mehr, sondern Dunkelheit, Nacht. Jemand sagte etwas. Einen Namen? Er konzentrierte sich darauf. Ja, das war ein Name, der gerufen wurde. Eine Frauenstimme. Illitsch? Iljitsch? Das schien es zu sein. Iljitsch. Ein russischer Name. Das war nahe liegend, der Komponist, dessen Erinnerung er wahrnahm, stammte aus Russland. Jetzt wieder nichts. Ein inhaltsschweres Nichts, wie der Wind und der dunkle Himmel vor einer totalen Sonnenfinsternis. Wie das Gefühl, das man mit dem Bild von dunklen Wolken beschreibt, die sich am Horizont zusammenziehen.
    TUSCH
    Sebastian zuckte zusammen. Er hatte tatsächlich einen Tusch gehört. Und zwar von einem großen Orchester. Und noch einmal. Derselbe Tusch. Und noch mal und noch mal und noch mal . . .
    Aufhören, dachte Sebastian. Er war kurz davor, Halt zu rufen. Dann war es wieder still.
    Er roch Erde, den satten, gesunden Duft feuchter Erde. Und er sah Grün. Unscharf, aber eindeutig. Jetzt verwandelte sich das Grün in eine Wiese, mit breitem Pinsel von einem kurzsichtigen Maler ohne Brille gezeichnet. Aber zusammen mit dem Geruch identifizierte er es eindeutig als eine Landschaft. Ein Schatten streifte über die grüne Fläche. Trotz der verzerrten Ränder glaubte Sebastian zu erkennen, dass der Schleier, den die Silhouette hinter sich her zog, ein Rock war. Klasse, er hatte den Komponisten mit einer Frau auf einer Wiese erwischt. So weit eindeutig. Wenn er wollte, konnte er jetzt in ein Mikrofon sprechen, das sich in Mundhöhe in der Röhre befand, und das »Erinnerte« beschreiben. Es würde dann aufgenommen und gespeichert.

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