FutureMatic
Ihrer Verletzung. Ich verfüge selbst über fundierte anatomische Grundkenntnisse, falls es sich als notwendig erweisen sollte.«
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»Aah, danke«, brachte Rydell hervor. »Wenn ich mir in diesem Lucky Dragon extrabreites Klebeband und ein paar analgetische Pflaster kaufen könnte, käme ich wahrscheinlich schon einigermaßen klar.« Er schaute sich um und fragte sich, wann er den mit dem Schal das nächste Mal sehen oder von ihm gesehen werden würde. Er hatte das Gefühl, dass der Schal derjenige war, vor dem er sich wirklich in Acht nehmen musste; warum, wusste er nicht zu sagen. »Was ist, wenn diese Söldner mitkriegen, dass wir ab-hauen?«
»Nie das Ergebnis vorwegnehmen«, sagte der Mann. »Warten Sie ab, wie sich die Geschehnisse entwickeln. Bleiben Sie im Jetzt.«
Jetzt wusste Rydell nur eines ganz genau, nämlich dass er verloren war. Schlicht und einfach verloren.
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RADONSCHATTEN
ontaine besorgt dem Jungen eine alte Campingmatte, die Fseine
Kinder vielleicht hier zurückgelassen haben, und legt ihn darauf; er schnarcht noch immer. Als er ihm den schweren Datenhelm abnimmt, sieht er, dass der Junge mit halb offenen Augen schläft, so dass man das Weiße sieht; Fontaine stellt sich vor, dass eine endlose Abfolge von Armbanduhren vor ihnen vor-
überzieht. Er deckt ihn mit einem alten Schlafsack zu, dessen verschossene Außenseite Berge und Bären zieren, und geht dann mit seiner Miso-Suppe zum Tresen zurück, um nachzudenken.
Er spürt jetzt eine leichte Vibration, kann aber nicht erkennen, was da vibriert, die instabile Konstruktion des Ladens, das Gerippe der Brücke oder die darunter liegenden Erdplatten. Von den Borden und Vitrinen kommen jedoch leise Geräusche: Winzige Überlebende der Vergangenheit registrieren diese neue Bewegung. Ein Bleisoldat auf einem Bord kippt mit einem entschiede-nen Klacken vornüber, und Fontaine macht sich im Geist eine Notiz, mehr Museumswachs zu kaufen, eine klebrige Substanz, die das verhindern soll.
Während er auf dem hohen Hocker hinter dem Tresen sitzt und vorsichtig seine heiße Miso-Suppe schlürft, fragt er sich, was er wohl sehen würde, wenn er mittels der Recall-Funktion des Notebooks die heutige Wegstrecke des Jungen nachvollzöge. Diese Sache mit den Schließfächern und Martial, der völlig aus dem Häuschen war. Wo mag der Junge sonst noch gewesen sein?
Jedenfalls an keinem wirklich gefährlichen Ort, denkt Fontaine, wenn er nur Uhren gesucht hat. Aber wie hat er das bloß gemacht, 263
wie ist er an diese Schließfachlisten rangekommen? Fontaine stellt die Miso-Suppe hin und fischt die Jaeger-LeCoultre aus seiner Tasche. Er liest die Militärsignatur auf dem Boden: G6B/346
RA↑AF
172/53
Das 6B bezeichnet eine bestimmte Güteklasse des Werks, einen Genauigkeitsgrad, wie er weiß, das 346 ist ihm allerdings ein Rätsel. Der breite Pfeil in der Mitte, das Zeichen der Queen, ihr Eigentum. 53 das Ausgabejahr, aber 172? Könnte der Junge diesen Zahlen ein Wissen abringen, wenn es möglich wäre, ihm die Frage zu stellen? Irgendwo nimmt auch noch der kleinste Fetzen Information seinen Weg in den Strom, das ist Fontaine klar. Er legt die Uhr auf seine Rolex-Unterlage und nimmt die salzige Miso-Suppe wieder auf. Als er durch die von Kratzern milchige Glasdecke des Tresens schaut, fällt ihm eine Neuerwerbung auf, die er noch nicht untersucht hat. Eine Helbros aus den vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts, einer Militärarmbanduhr nachemp-funden, aber selbst keine richtige Militärarmbanduhr. Die hat er einem Plünderer aus den Hügeln von Oakland abgekauft. Er greift in den Tresen und holt sie heraus, nach der G6B ein schä-
biges Ding.
Ihre Fassung ist stark verbeult, wahrscheinlich so stark, dass Polieren auch nichts mehr bringt, und die Leuchtmasse auf dem matt schwarzen Zifferblatt hat die Farbe silberner Asche angenommen. Er holt die Lupe aus seiner anderen Tasche und schraubt sie sich ins Auge, dreht die Helbros unter seinem zehnfach vergrö-
ßerten Zyklopenblick um. Der Boden ist abgenommen und wieder drangeschraubt, aber nicht richtig festgedreht worden. Er dreht ihn mit den Fingern heraus, um im Innern nach winzigen eingravierten Aufzeichnungen ihrer Reparaturgeschichte zu suchen.
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Mit zusammengekniffenen Augen späht er durch die Lupe: Das letzte Reparaturdatum, das da eingraviert ist, lautet »August 1945«.
Er dreht die Uhr wieder um und studiert sie. Das Uhrglas ist synthetisch, irgendein Kunststoff, eindeutig uralt
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