Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Fyn - Erben des Lichts

Fyn - Erben des Lichts

Titel: Fyn - Erben des Lichts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nadine Kühnemann
Vom Netzwerk:
ich begriffen hatte, was der Mann dort unten tat, hatte ich Arc mit einem stummen Nicken befohlen, ihn aus der Gefahrensituation zu befreien. Arc griff hinab und packte ihn am Kragen seines Hemdes. Der Mann ließ sich wie eine Puppe über den Zaun heben. Er winselte und schluchzte, wehrte sich jedoch nicht. Gegen Arc hätte er ohnehin keine Chance gehabt. Falls er sich wunderte, wie es ein einzelner Mensch fertigbringen konnte, einen erwachsenen Mann mit einer Hand über einen Zaun zu heben, ließ er es sich nicht anmerken.
    Der Kerl war ein Mensch mittleren Alters mit wettergegerbtem Gesicht. Tiefe Geheimratsecken schnitten sich in sein dichtes schwarzes Haar. Seine Augen glänzten vor Tränen. Ich vermutete, dass er beabsichtigt hatte, sich in die Tiefe zu stürzen, doch er hatte nicht einmal einen Protestlaut ausgestoßen, als Arc den Versuch vereitelte. Ich legte mir seinen Arm um die Schulter und ging mit ihm zurück zu unserer Karre, auf der Ylenia hockte. Sie war gerade damit beschäftigt, sich das Haar zu bürsten. Als sie uns sah, sprang sie auf und starrte mich mit großen Augen an.
    »Wer ist das?«, stieß sie hervor, jegliche Form von Höflichkeit missachtend.
    »Arc hat ihn von der Felswand gepflückt. Ich nehme an, er ist lebensmüde.« Als ich den Arm des Mannes von meiner Schulter löste, glitt er wie eine Marionette, der man die Fäden durchtrennt hatte, zu Boden und blieb dort mit ausgestreckten Beinen sitzen. Ylenia bedachte mich mit einem tadelnden Blick, und auch ich konnte mir nicht erklären, weshalb ich mich in die Angelegenheiten eines Fremden eingemischt hatte.
    Nachdem er zu schluchzen aufgehört hatte, wagte ich, ihn anzusprechen. »Wie ist Ihr Name?«
    Er hob den Kopf und sah mich eine Weile mit gläsernem Blick an, ehe er antwortete. »Ian Brody.« Er schniefte und wischte sich mit dem Handrücken über das Gesicht. »Ihr hättet mich springen lassen sollen.«
    Ich gab ihm etwas von unseren kargen Vorräten zu essen, was Ylenia nur mit einem Knurren kommentierte. Sie schüttelte unentwegt leicht den Kopf, als könnte sie nicht fassen, was ich tat. Ich fühlte mich wie ein Kind, das eine verwilderte Katze mit nach Hause gebracht hatte und sich nun dem Urteil seiner Eltern unterzog.
    Wir erfuhren von Mr. Brody, dass er mit einem Gespann nach Evensedge reisen wollte, doch unterwegs hätte ihn der Mut verlassen. Er war ein vom Schicksal gebeutelter Schweinebauer, dessen Frau und Kinder während des Kriegs gegen die Alven ihr Leben verloren hatten. Ich hörte ihm gebannt zu, was nicht nur ihm offensichtlich Erleichterung verschaffte, sondern auch mir zum ersten Mal die Gelegenheit bot, die Auswirkungen des Kriegs aus erster Hand zu erfahren. Mit jedem Wort steigerte sich in mir sowohl der Hass gegen mein eigenes Volk als auch das schlechte Gewissen. Ich hatte mir seinerzeit nichts sehnlicher gewünscht, als am Krieg teilhaben zu dürfen. Wie vergrätzt ich gewesen war, als man mich gezwungen hatte, im Perlenturm zurückzubleiben! Mittlerweile war ich froh darüber. Ich wünschte der Weißen Liga nichts als den Tod.
    Nachdem Mr. Brody sich den Schmerz von der Seele geredet hatte, konnten wir ihn schließlich davon überzeugen, sein Leben nicht zu beenden. Als Ylenia ihm dann noch erzählte, sie sei eine wandernde Wahrsagerin und sehe für ihn eine bessere Zukunft, schlich sich sogar ein flüchtiges Lächeln auf seine Züge. Plötzlich erwachte sie aus ihrer Starre und umsorgte Mr. Brody wie eine Mutter. Sie bot ihm zu trinken an und schenkte ihm sogar eines ihrer Zauberamulette. Angeblich würde es ihm eine glückliche Zukunft bescheren. Ich bezweifelte, dass Ylenia selbst an die Wirkung ihrer Pendel und Amulette glaubte, und vermutete stattdessen, dass sie wieder einmal einen Plan verfolgte. Und tatsächlich – Mr. Brody bot uns an, uns auf der Ladefläche seines Gespanns nach Evensedge zu bringen. Von diesem Moment an war ich mir vollkommen sicher, dass Ylenias plötzliche Fürsorge keinem anderen Zweck gedient hatte. Sie war ein ausgekochtes Früchtchen, aber ihre Art verzückte mich zunehmend.
    Wir luden unsere kleine Karre auf die Ladefläche von Mr. Brodys großem Gespann und warteten, bis das Amovium am Nachmittag endlich abfahrbereit war. Nachdem der Schweinebauer seine Ferkel auf dem Markt von Brysben verkauft hatte, bot die leere Ladefläche genügend Platz für uns drei samt Gepäck. Ich fühlte mich nicht sonderlich wohl mit dieser Lösung, obwohl meine Füße es mir danken

Weitere Kostenlose Bücher