Fyn - Erben des Lichts
ich nie gelangt, und auch die Schlucht selbst hatte ich niemals überquert. Als ich das letzte – und einzige – Mal dort gewesen war, zählte ich gerade dreizehn oder vierzehn Jahre. Breanor hatte mich mitgenommen, damit ich mir die dampfbetriebene Plattform ansehen konnte, die die Reisenden über die Schlucht transportierte. Die Plattform ähnelte dem Amovium, das mich seinerzeit auf die Insel der Akademie gebracht hatte, nur war der Schwebende Harry , wie ihn die Leute liebevoll nannten, um einiges größer.
Wir spürten die Ausläufer der Berge mit jedem Schritt deutlich – es ging mal bergauf, mal bergab. Wir kehrten den besiedelten Gegenden bald den Rücken und marschierten hügelan, vorbei an graugrünen Sträuchern mit derben kleinen Blättern, deren Dornen sich in die Haut bohrten, wenn man ihnen zu nahe kam. Der Zustand der Straße ließ beträchtlich nach. Schlaglöcher und Risse, wohl verursacht durch hohe Temperaturschwankungen, machten den Weg nach Norden für jeden zu einer unliebsamen Reise, der dort keine dringenden Geschäfte zu erledigen hatte. Weiter ging unser Weg durch Täler und über Hügel, immer strikt geradeaus. Die Straße schien keine Rücksicht auf die Unebenheiten der Landschaft zu nehmen, sie schnitt sich stur in einer Linie durch alles, was ihr in den Weg kam. Wenn es bergauf ging, schoben Ylenia und ich die Karre an, um Arc zu entlasten. Ich war heilfroh, dass der Technoid uns begleitete, er wurde zu einem unverzichtbaren Helfer, der nicht nur unser Gepäck beförderte, sondern des Nachts, wenn wir schliefen, Wache hielt. Ich fragte mich, ob man in Elvar nach dem Technoiden fahndete. Immerhin war er der Einzige, der ohne erkennbaren Grund verschwunden war. Ylenia hatte offiziell gekündigt und ich war tot. Vermutlich dachten sie, er wäre weggelaufen, weil er mich vermisste. Ha! Sollten sie es ruhig glauben. Sollten sie spüren, welch weite Kreise mein Tod zog. Ich gönnte ihnen den Verlust.
Es ist seltsam, in welcher Weise widrige Umstände auf das Schamgefühl und anerzogene Förmlichkeiten wirken – man verliert die Scheu voreinander, pflegt einen lockeren Umgang und lernt, sich auf den anderen zu verlassen. Ylenia und ich bildeten keine Ausnahme. Nach mehreren Nächten in einem beengten Zelt fühlte ich mich in ihrer Nähe weniger unwohl als zuvor, auch Ylenia hatte einen Großteil ihrer Scham abgelegt. Sie bewegte sich selbst in Unterkleidung völlig ungezwungen vor mir. Wir hatten nichts als einander, und in Anbetracht dieser Tatsache waren wir geneigt, uns näherzukommen. Anfangs war es ein seltsames Gefühl, denn jahrelanger Drill und die Androhung von Strafen bei Nichteinhaltung der höfischen Etikette hatten mich dazu getrieben, stets diskreten Abstand zwischen mich und andere zu bringen. Doch dieses Leben war vorüber. Lange hatte ich geglaubt, die mir eingeimpften Moralvorstellungen wären aus mir selbst entsprungen, doch mehr und mehr begriff ich, wie wundervoll es war, sich von den Fesseln des Zwangs zu lösen. Mittlerweile war es zu einer Selbstverständlichkeit geworden, Ylenia in meinen Armen einschlafen zu lassen. Sie weckte mich morgens mit einem Kuss auf die Stirn. Ich begann sogar, Gefallen an ihrem burschikosen Betragen zu finden. Wir neckten und rauften uns manchmal wie zwei junge Hunde. Obwohl wir – objektiv betrachtet – ein erbärmliches Leben führten und auf alle Annehmlichkeiten verzichten mussten, fühlte ich mich seltsam glücklich und befreit. Das Einzige, was mich wirklich störte, waren die beschränkten Möglichkeiten, Körperhygiene zu betreiben. Ich hatte mir zwar geschworen, meine alten Ticks und Eigenheiten abzulegen, doch es gelang mir nicht immer. Ich störte mich an Dreck und Unordnung, was Ylenia oftmals ein amüsiertes Glucksen abrang.
Nach vielen Tagen des Wanderns bemerkte ich zum ersten Mal, dass Norrizz seit dem Tag unseres Aufbruchs nicht mehr erschienen war. Nicht, dass es mich störte, aber ich stellte mir sogar schon die Frage, ob meine neu gewonnene geistige Gesundheit mich von diesem Plagegeist befreit hatte. Natürlich war das nur eine zaghafte Hoffnung. Wahrscheinlicher erschien es mir, dass ich in den letzten Tagen einfach zu glücklich gewesen war, um ihn heraufzubeschwören. Ich hatte diesbezüglich eines gelernt: Norrizz trat vornehmlich dann auf den Plan, wenn es mir emotional oder körperlich schlecht ging. Ich hoffte, dieser Zustand des inneren Friedens würde noch eine Weile anhalten.
Wir reisten noch einen
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