Fyn - Erben des Lichts
allmählich wurde mir gewahr, was sie wirklich beabsichtigte. Sie definierte »aus nächster Nähe« anscheinend anders als ich.
»Sei doch vernünftig. Wir sind müde, das Gepäck ist schwer. Lass uns zurückgehen.« Ich bemühte mich um einen sanften Tonfall, was mir nur unzureichend gelang.
»Nein!« Ihre donnernde Stimme erschreckte mich. Was war mit dieser Frau los? Was veranlasste sie dazu, so verbissen auf ihrem Willen zu bestehen?
»Nun geh schon.« Ich zuckte zusammen. Im ersten Moment dachte ich, Arc hätte mit mir gesprochen, aber als ich mich ruckartig umwandte, blickte ich geradewegs in das grinsende Gesicht von – Norrizz. Der hatte mir gerade noch gefehlt! Ich musste dringend lernen, meine Emotionen besser zu kontrollieren. Es schien die einzige Möglichkeit zu sein, den Plagegeist loszuwerden.
»Sei bloß still«, knurrte ich. Dummerweise bezog Ylenia alles, was ich sagte, auf sich, weil sie nicht in der Lage war, den weißhaarigen Idioten zu sehen.
»Ich lasse mir von keinem Mann der Welt den Mund verbieten«, keifte sie.
Neben mir ertönte Norrizz’ hämisches Gelächter. Ich nahm mir fest vor, ihn zu ignorieren.
»Ich gehe jetzt allein zurück ins Dorf.« Ich packte meinen Rucksack und wies Arc mit einer Handbewegung an, mir zu folgen. In mir kochte Wut. Mich streifte der Gedanke, was ich überhaupt je an Ylenia gefunden hatte. Sie war vorlaut, unnachgiebig und rücksichtslos. Nicht das, was sich ein achtbarer Mann wünschte. Trotzdem konnte ich nicht leugnen, dass mein Herz höherschlug, wenn sie mich anlächelte. War es lediglich die Verzweiflung, die mich dazu getrieben hatte, sie in mein Bett zu lassen? Ich schob den Gedanken beiseite. Ich würde noch hinreichend Gelegenheit bekommen, darüber nachzudenken.
Hinter mir hörte ich Ylenia knurren wie ein Raubtier. Ich ignorierte es. Doch was ich nicht ignorieren konnte, war der geisterhafte Kerl, der permanent auf mich einredete.
»Geh zu ihr hin«, sagte er, sein Ton ebenso befehlsgewohnt wie der von Ylenia. Er ging neben mir her und packte mich an der Schulter. Es gelang ihm sogar, mich zu Boden zu reißen. In diesem Punkt hatte Norrizz sich von jeher wenig irreal verhalten. Er war kein ungreifbarer Gestaltloser, sondern konnte aktiv handeln. Schlecht für mich.
Ylenia stieß einen spitzen Schrei aus. Wie musste es für sie ausgesehen haben? Wie ein Anfall? Immerhin war ich in einer ruckartigen Bewegung zu Boden gegangen. Norrizz kniete über meiner Brust, seine langen weißen Haare kitzelten in meinem Gesicht. »Hör mir mal gut zu«, flüsterte er. »Entweder du tust, was Ylenia von dir verlangt, oder ich muss andere Methoden anwenden.«
»Weshalb ist es dir so wichtig, dass ich mit Ylenia gehe?«
Norrizz lachte kurz, ein irrer Ausdruck lag auf seinem Gesicht. »Du Dummkopf. Ich weiß schon lange etwas, vor dem du dich verschließt.« Er beugte sich zu mir herab, bis sein Gesicht nahe dem meinen war. »Ylenia hütet ein Geheimnis. Sie wird uns nach Hause bringen, in unser wahres Heim.«
»Ich gehe nirgendwo hin, außer zurück ins Dorf. Du bist ja verrückt!«
Wieder einmal bezog Ylenia die Worte auf sich, aber ich war nicht mehr in der Lage, ihren Schimpftiraden zu folgen, denn Norrizz machte seine Drohung tatsächlich wahr. Seine anderen Methoden hatte ich schon zuvor zu spüren bekommen, vorwiegend während meiner Kindheit und Jugend. Ich hatte schon beinahe vergessen, wie es sich anfühlte, wenn er sich meines Körpers bemächtigte. Doch dieses Mal trug ich nicht – wie früher – eine gewaltige Erinnerungslücke davon. Ich hatte den Eindruck, dass Norrizz mir absichtlich mein Bewusstsein ließ, damit ich sah, was er tat.
Das Gefühl, wenn jemand anderes die Kontrolle über den eigenen Körper übernimmt, ist unbeschreiblich. Zuerst verschwand Norrizz jäh von meiner Brust, und ich hatte schon geglaubt, er hätte aufgegeben. Dann spürte ich, wie sich ein Druck in meinem Schädel aufbaute, etwa so, als zöge jemand einen Reif um meinen Kopf enger und enger. Ich stieß einen Schrei aus. Es sollte die letzte Handlung sein, die ich bewusst ausführte, ehe ich jeglichen Bezug zu meinem Körper verlor. Es war, als hätte jemand ein Kabel durchgeschnitten. Jäh verstummten die Schmerzen und mit ihnen sämtliche anderen Sinneseindrücke. Hatte ich zuvor noch das harte Gestein unter meinem Rücken gespürt, fühlte ich jetzt – nichts. Eine gähnende Leere. Alles, was ich noch tun konnte, war sehen, durch Augen, die mir nicht
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